41. Deutscher Verkehrsgerichtstag
DEUTSCHE AKADEMIE FÜR VERKEHRSWISSENSCHAFT e.V.
- Deutsches Verkehrswissenschaftliches Seminar -
41. Deutscher Verkehrsgerichtstag
29. bis 31. Januar 2003 in Goslar
EMPFEHLUNGEN
Arbeitskreis I
“Unfallrisiko Fahranfänger”
Arbeitskreis II
“Verkehrssicherungspflicht: Inhalt, Grenzen, Finanzierbarkeit”
Arbeitskreis III
“Zweifel an der Fahreignung”
Arbeitskreis IV
“Verkehrsunfallflucht”
Arbeitskreis V
“Unfalldatenspeicher”
Arbeitskreis VI
“Verkehrssicherungspflicht: Inhalt, Grenzen, Finanzierbarkeit”
Arbeitskreis VII
“Der technische Sachverständige in Verkehrssachen”
Arbeitskreis VIII
“Das Havariekommando: Probleme gelöst?”
Arbeitskreis I
“Unfallrisiko Fahranfänger”
1. Der Arbeitskreis sieht angesichts des anhaltend weit überproportionalen Unfallrisikos von Fahranfängern und jungen Fahrern dringenden Handlungsbedarf.
2. Er begrüßt, dass der Rechtsrahmen für die Erprobung der 2. Fahrausbildungsphase entscheidungsreif ist und in Kürze im Bundesrat behandelt werden soll.
3. Der Arbeitskreis hält daneben weitere Maßnahmen für erforderlich.
4. In dem Modell des begleiteten Fahrens im Anschluss an den Erwerb der Fahrerlaubnis sieht der Arbeitskreis grundsätzlich eine weitere geeignete Maßnahme zur Erhöhung der Sicherheit von Fahranfängern.
5. Er spricht sich für die zügige Weiterarbeit an dem Modell und anschließend für eine umgehende Einführung unter wissenschaftlicher Begleitung aus.
6. Dabei ist sich der Arbeitskreis bewusst, dass dieses Modell die Herabsetzung des Mindestalters für den Erwerb der Fahrerlaubnis auf 17 Jahre erfordert, weil die Auflage, für eine bestimmte Zeit nur mit einem Begleiter zu fahren, gegenüber einem 18-jährigen Fahrerlaubnisinhaber rechtlich und tatsächlich nicht mehr durchsetzbar ist.
7. Bei der Ausgestaltung des Modells „Begleitetes Fahren ab 17“ muss die Balance zwischen Zugangsfreundlichkeit einerseits und Risikominimierung in der Begleitphase andererseits gefunden werden.
8. Der Arbeitskreis hält die bisher ins Auge gefassten Anforderungen an den Begleiter für teilweise überarbeitungsbedürftig. Dies betrifft insbesondere die VZR-Eintragungsbelastung (Punkte) des Begleiters. Auch die Anforderungen an seine Fahrtüchtigkeit sollen erneut geprüft werden.
9. Außerdem sieht der Arbeitskreis Klärungsbedarf hinsichtlich der Rechtsposition des Begleiters und des Geschädigten sowie hinsichtlich des Haftpflichtversicherungsschutzes im Schadensfall.
10. Im Übrigen bekräftigt der Arbeitskreis den Beschluss des Arbeitskreises „Junge Kraftfahrer“ des 36. Verkehrsgerichtstages 1998, der eine Null-Promille-Regelung für Fahranfänger in der Probezeit gefordert hatte.
Arbeitskreis II
“Verkehrssicherungspflicht: Inhalt, Grenzen, Finanzierbarkeit”
1. Es ist die besondere Pflicht des motorisierten Verkehrsteilnehmers, durch vorsichtiges und vorausschauendes Verhalten Gefahren von sich selbst und anderen Verkehrsteilnehmern abzuwenden. Dabei hat er die Straße grundsätzlich so zu nehmen, wie sie erkennbar ist. Ein Anspruch auf besonders gute Straßenverhältnisse besteht nicht.
Gerade bei winterlichen Straßenverhältnissen obliegt es dem Kraftfahrer und Halter eines Fahrzeuges, sich selbst und andere durch eine den Witterungsverhältnissen angepasste Fahrweise und eine „wintertaugliche“ Ausrüstung seines Fahrzeuges (zum Beispiel Winterbereifung) zu schützen.
2. Die Eigenverantwortung des Verkehrsteilnehmers findet jedoch dort ihre Grenze, wo Gefahren durch die Straßenverhältnisse nicht oder nicht rechtzeitig erkennbar sind. Hier muss der Verkehrssicherungspflichtige wirksame Maßnahmen treffen, um Gefahren für Leib und Leben der Verkehrsteilnehmer abzuwenden.
3. Aus Gründen der Verkehrssicherungspflicht ist es nicht generell erforderlich, bestehende Alleen zu beseitigen oder Neuanpflanzungen zu unterlassen. Dem besonderen Gefährdungspotential von Alleen ist durch eine angepasste Geschwindigkeit (Geschwindigkeitsbegrenzung) zu begegnen. Bei Unfallschwerpunkten sind zusätzlich passive Schutzeinrichtungen (z. B. Leitplanken) anzubringen.
4. Um Unfälle in Baustellenbereichen zu reduzieren, sollten nicht nur die Einhaltung der angeordneten Geschwindigkeitsbeschränkungen, sondern auch die Einhaltung der bestehenden technischen Vorschriften und Richtlinien (z. B. Richtlinie für die Sicherung von Arbeitsstellen an Straßen) strenger überwacht werden. Außerdem sollten die Richtlinien daraufhin überprüft werden, ob nicht eine bessere Orientierung im Baustellenbereich erreicht werden kann.
Arbeitskreis III
“Zweifel an der Fahreignung”
1. Die umfassend überarbeiteten und detaillierten Regelungen zur Kraftfahreignung sind schlüssig.
2. Akzeptanz und Transparenz der Fahreignungsbegutachtung können durch das Angebot von Tonbandmitschnitten weiter verbessert werden.
3. Abwertenden Darstellungen der MPU sollte von allen beteiligten Institutionen entgegengewirkt werden.
4. Rückläufige MPU-Zahlen und zunehmender Wettbewerb dürfen die Qualität der Begutachtungen nicht mindern. Deshalb sind die Anerkennungs- und Akkreditierungsvorschriten konsequent einzuhalten und fortzuentwickeln.
5. Für die mit der Begutachtung beauftragten Fachärzte mit verkehrsmedizinischer Qualifikation sollten Qualitätssicherungsvorgaben geschaffen sowie klare Regelungen für die Zuweisung an den Gutachter entwickelt werden.
6. Nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zur Kraftfahreignung bei bloßem Besitz von Cannabis sind die polizeiliche und fahrerlaubnisrechtliche Praxis unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu überprüfen. Speziell entwickelte Drogenerkennungsprogramme sind konsequent einzusetzen. Ebenso sind Forschungsvorhaben bezüglich Drogen im Straßenverkehr verstärkt durchzuführen.
7. Zur Wiederherstellung der Fahreignung sollte die Zeit der Entziehung der Fahrerlaubnis genutzt werden, um geeignete verhaltens- und einstellungsändernde Maßnahmen durchzuführen. Dazu ist es erforderlich, den Betroffenen frühzeitig zu informieren. Hierzu sollte u.a. ein Merkblatt für die Betroffenen entwickelt und ausgehändigt werden.
Arbeitskreis IV
“Verkehrsunfallflucht”
1. In Übereinstimmung mit den Empfehlungen früherer Verkehrsgerichtstage hält der Arbeitskreis den Strafbestand der Verkehrsunfallflucht (§ 142 StGB) im Interesse des Opferschutzes für zwingend erforderlich.
2. Um in Zukunft einer größeren Zahl von Geschädigten die Durchsetzung ihrer Ersatzansprüche zu ermöglichen, schlägt der Arbeitskreis eine Erweiterung des § 142 Abs. 4 StGB (tätige Reue in Form der freiwilligen Selbstanzeige) vor.
Im Einzelnen:
- Es sollen alle Sachschäden erfasst werden, ungeachtet ihrer Höhe.
- Als Unfälle “außerhalb des fließenden Verkehrs” sind auch Unfälle anzusehen, die aus dem fließenden Verkehr an ruhenden Objekten (parkende Fahrzeuge, Schutzplanken, Straßenschilder u.Ä.) verursacht werden.
- Entgegen bisheriger Gesetzesregelung (nur obligatorische Strafmilderung oder fakultati-ves Absehen von Strafe) soll die tätige Reue nach Ansicht der Mehrheit zwingend zum Strafausschluss führen.
- Bei tätiger Reue werden somit keine Punkte wegen Verkehrsunfallflucht im Verkehrs-zentralregister eingetragen.
3. Nach Ansicht des Arbeitskreises soll die tätige Reue – wie bisher – bei Personenschäden ausgeschlossen bleiben. Auch an der 24-Stunden-Frist soll festgehalten werden.
4. Flankierend gibt der Arbeitskreis Folgendes zu erwägen:
- Versicherungsrechtlich soll nach einer Lösung gesucht werden, die bei tätiger Reue einen Regress gegen den Flüchtigen ausschließt.
- Die Unfallstatistiken der Bundesländer sollen auf dem Gebiet der Verkehrsunfallflucht bundeseinheitlich ausgestaltet werden.
- Die positiven Erfahrungen einzelner Bundesländer mit EDV-gestützten Fahndungs- und Recherchesystemen im Bereich der Unfallflucht sollen bundesweit genutzt werden.
Arbeitskreis V
“Unfalldatenspeicher”
1. Die Rekonstruktion eines Unfallgeschehens setzt die Feststellung der relevanten Tatsachen in hinreichender Zahl voraus. Bereits heute bestehen hier erhebliche Mängel, die sich durch die weitere Verbreitung elektronischer Systeme im Kfz noch verstärken werden. Unfalldatenspeicher sind in der Lage, solche Defizite erheblich zu verringern. Sie erfassen für einen Zeitraum von etwa 30 sec vor und etwa 15sec nach dem Unfall die relevanten Fahrdaten des Kraftfahrzeugs.
2. Da eine zunehmende Zahl von Unfalldatenspeichern im Einsatz ist, wird der nationale Gesetzgeber aufgerufen zu regeln, unter welchen Voraussetzungen gespeicherte Daten verwertet werden dürfen.
3. Aus verfassungsrechtlicher Sicht bestehen gegen den Einsatz von Unfalldatenspeichern keine Bedenken. Zur Unfallschadensregulierung und im Haftpflichtprozess ist die Auswertung der Daten ohne Einschränkung möglich. Eine Auswertung der Daten im Bußgeldverfahren ist ausgeschlossen. Im Strafverfahren ist die Verwertung der Daten auf Unfälle mit schwerer Körperverletzung oder Todesfolge und auf Versicherungsbetrug zu beschränken. Zudem ist zu gewährleisten, dass Daten, die nicht im Zusammenhang mit einem Unfall stehen, weder verarbeitet noch weitergegeben werden. Im Übrigen müssen Unfalldatenschreiber zertifiziert und einer manipulationsfreien Auswertung zugänglich gemacht werden.
4. Die zunehmende Ausstattung von Kraftfahrzeugen mit elektronischen Komfort- und Sicherheitssystemen führt bereits jetzt zu einer – allerdings unkoordinierten – Speicherung von unfallrelevanten Daten. Diese herstellerbezogenen Einzeldaten gestatten keine zusammenfassende unfallanalytische Beurteilung und sind dem Sachverständigen nicht zugänglich. Die Automobilindustrie wird deshalb aufgefordert, einen genormten Unfalldatenspeicher zumindest als Zubehör anzubieten.
5. Die Bundesregierung wird aufgerufen, die Bemühungen der zuständigen Organe der EU zur obligatorischen Einführung des Unfalldatenspeichers nachdrücklich zu unterstützen.
Arbeitskreis VI
“Verkehrssicherungspflicht: Inhalt, Grenzen, Finanzierbarkeit”
In einigen europäischen Ländern leistet die eigene Haftpflichtversicherung des geschädigten Autofahrers Schadensersatz an ihren Versicherungsnehmer. Anschließend nimmt die regulierende Haftpflichtversicherung bei der Haftpflichtversicherung des Schädigers Regress.
Diese Direktregulierung des Sachschadens kommt für deutsche Verhältnisse nicht in Betracht. Es verstößt nach Auffassung des Arbeitskreises gegen das Rechtsberatungsgesetz und stellt eine Interessenkollision dar, wenn die eigene Haftpflichtversicherung Interessen ihres Versicherungsnehmers gegenüber dem Unfallgegner und dessen Haftpflichtversicherung wahrnimmt.
Denkbar bleibt jedoch eine eigene Produktlösung der Art, dass der Versicherungsnehmer – wie bei der Kaskoversicherung – einen vertraglichen, auch einklagbaren Anspruch auf Schadensersatz gegen die eigene Versicherung erwirbt.
In keinem Fall dürfen Rechte des Geschädigten – zum Beispiel, was die freie Wahl eines Rechtsanwalts und eines Kraftfahrzeug-Sachverständigen betrifft – verkürzt werden. Weil der Versicherer des Geschädigten natürlich auch eigene Interessen wahrnimmt, bestehen auch hier Bedenken wegen einer möglichen Interessenkollision. Deshalb ist eine solche Produktlösung vom Standpunkt des Verbrauchers aus nur hinzunehmen, wenn dem Versicherungsnehmer vertraglich die gleichen Rechte angeboten werden, die ihm nach Gesetz und Rechtsprechung gegenüber dem Schädiger zustehen.
Arbeitskreis VII
“Der technische Sachverständige in Verkehrssachen”
1. Der Arbeitskreis fordert mit Nachdruck den Gesetzgeber auf, für Sachverständige der Bereiche „Kfz-Schäden und ‑Bewertung“ sowie „Straßenverkehrsunfallanalyse“ Berufsbilder zu erlassen, wie bereits beim 23. Verkehrsgerichtstag 1985 empfohlen.
2. Grundlage sollten die normativen Dokumente sein, welche die Organisationen und Verbände des Kfz-Sachverständigenwesens für diese Berufsbilder bereits verabschiedet haben. Die Grundvoraussetzungen hierfür sind insbesondere
- bei „Schäden und Bewertung“ mindestens eine Vorbildung als Kfz-Meister und
- für den Bereich „Unfallanalyse“ ein erfolgreich abgeschlossenes Ingenieurstudium.
3. Für die Übergangsphase empfiehlt der Arbeitskreis eine freiwillige Selbstbindung der Bestellungskörperschaften, Sachverständigen-Verbände, ‑Organisationen und Kfz-Versicherer an die in Ziffer 2 genannten Grundvoraussetzungen. Als Kfz-Sachverständiger ist nur anzuerkennen, wer eine öffentliche Bestellung und Vereidigung oder eine Personalzertifizierung nach den oben genannten Kriterien nachweist.
4. Zur Zertifizierung ist nur berechtigt, wer die Anforderungen der Europäischen Norm 45013 erfüllt und eine Akkreditierung im System des Deutschen Akkreditierungsrates oder eine gleichwertige Akkreditierung nachweist.
5. Zum Fragenkreis Unabhängigkeit und Haftung des Sachverständigen sieht der Arbeitskreis derzeit keinen Handlungsbedarf.
Arbeitskreis VIII
“Das Havariekommando: Probleme gelöst?”
1. Der Arbeitskreis VIII begrüßt, dass die Empfehlung des 39. Deutschen Verkehrsgerichtstages 2001 zur Einrichtung eines zentralen Havariekommandos zügig umgesetzt worden ist. Der weitere Aufbau des Havariekommandos, das am 01.01.2003 in Cuxhaven seine Tätigkeit aufgenommen hat, muss insbesondere durch Ausbildung, Schulung und Training des Personals sowie durch praxisnahe Übungen intensiv vorangetrieben werden.
2. In Nord- und Ostsee müssen schnellstens Notliegeplätze eingerichtet werden. Bund und Küstenländer werden aufgefordert, unverzüglich die noch erforderlichen Vereinbarungen über die Zuweisung, die Einrichtung und den Betrieb von Notliegeplätzen abzuschließen. Nicht einbringliche Kosten, die aus der Zuweisung eines Notliegeplatzes für ein Schiff entstehen, sollten von Bund und Ländern gemeinsam getragen werden. Die Zusammenarbeit mit den Nachbarstaaten zur Umsetzung des Notliegeplatzkonzeptes der Europäischen Gemeinschaft muss intensiviert werden.
3. Bei der Havarie eines Fahrgastschiffes oder einer Ro-Ro-Fähre mit einer Vielzahl von Verletzten muss deren medizinische Versorgung sichergestellt werden. Das erforderliche Hilfeleistungssystem sollte partnerschaftlich auf den Regelrettungsdiensten aufbauen. Bund, Küstenländer und Kommunen werden aufgefordert, möglichst schnell die notwendigen Vereinbarungen einschließlich einer Kostenregelung abzuschließen und für eine ausreichende Versicherung der Einsatzkräfte auf See zu sorgen.
4. Die Haftung und Versicherung im Havariefall muss international verbessert werden; vorrangig ist die Ratifizierung der Übereinkommen über die Haftung für Schäden durch Bunkeröl und gefährliche Güter sowie der Abschluss eines Übereinkommens über die Wrackbeseitigung. Der Bund wird aufgefordert, sich für eine umgehende Einrichtung eines zusätzlichen internationalen Haftungsfonds für Ölverschmutzungsschäden einzusetzen, der eine Haftungsdeckung von 1 Mrd. € sicherstellt.
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