Maximilian Herberger: Justiz-Automation in Zeiten justizieller Umbrüche

Maximilian Herberger:
Justiz-Automation in Zeiten justizieller Umbrüche


Wenn wir von Justizautomation sprechen, so wissen wir unter EDV-Praktikern, was wir damit meinen. Es handelt sich um einen Arbeitsbegriff, der sagen will, daß Abläufe in der Justiz Automationsunterstützung erhalten. Und trotzdem ist Vorsicht mit dem Wort geboten. Denn es ruft unter EDV-Skeptikern relativ verläßlich einen Abwehr-Reflex hervor, der unterstellt, die Justiz solle dabei zum Objekt von Automatisierung gemacht werden. Von da ist die assoziative Brücke dann nicht mehr weit zu Gedanken von Maschinenherrschaft bis hin zu dem immer noch verbreiteten Vorurteil, die Rechtsinformatik wolle hier und da den Computer an die Stelle von Richterinnen und Richtern setzen.[1]

Zwar kann man versuchen, den Begriff „Justizautomation“ in seiner realistischen von Zumutungen freien Dimension zu erklären. Ein solcher Erklärungsversuch baut auf der Beobachtung auf, daß es in der Justiz Abläufe („workflows“)gibt, die keinen materiellen Wert in sich tragen, sondern anderen, zentralen Zwecken der Justiz zu dienen bestimmt sind. Der traditionelle Aktentransport ist dafür ein Parade-Beispiel. Niemand wird die Dominanz des Menschlichen und des Gerechten in der Justiz als gefährdet ansehen können, wenn dieses „Instrument“ durch Automatisierung effektiver gestaltet wird.

Man kann im Sinne eines vorurteilsfreien Verständnisses auch versuchen, den gefährlich maschinennah klingenden Begriff der Automatisierung in seiner dienenden Rolle mit den wesentlichen Zielsetzungen der Justiz in Verbindung zu bringen. So ist etwa die Schnelligkeit der Justizgewährung ein anerkannter Gerechtigkeitswert. Die englische Rechts-Parömie „Justice delayed is justice denied“ bringt dies treffend zum Ausdruck. Wenn nun Automatisierung zur Beschleunigung der Justizabläufe beiträgt (man darf dabei wieder an das Beispiel des Aktentransportes denken), dient sie der Gerechtigkeit. So recht verstandene Automatisierung kann dann nicht mehr als etwas Gerechtigkeitsfremdes stilisiert werden.

Und trotzdem: Wahrscheinlich sollte man sich vom Begriff der Justizautomatisierung verabschieden. Denn alle rhetorische Erfahrung zeigt, daß Vorurteile wachrufende Worte durch noch so gelungene Erklärungen nicht zu Vermittlern positiver Botschaften gemacht werden können. Vielleicht empfiehlt es sich aus diesem Grund, von Technik im Dienste der Justiz zu sprechen, will man die eben beschriebene Zweck-Mittel-Relation begrifflich verläßlich verankern.

Das Management justizieller Umbrüche – einige Vorschläge

Umbrüche, so notwendig und unabweislich sie in bestimmten historischen Situationen sein mögen, bewirken immer auch Unsicherheit bis hin zu Angst. Die Ankunft moderner Technik in der Justiz ist ein solcher tiefgreifender Umbruch, der oft geradezu als „Einbruch“ empfunden wird. In dieser Situation ist es eine Pflicht der Organisationsverantwortlichen, die Unsicherheiten und Ängste ernstzunehmen und einen offenen Umgang damit zu fördern. Man kann dabei durchaus auch die eigene Unsicherheit mit zum Gegenstand eines solchen Gesprächs machen. Denn wer hätte trotz des ernsten Bemühens um kompetenten EDV-Einsatz nicht schon ein einmal die Unsicherheit gespürt, die komplexe EDV-Abläufe hervorrufen? Man könnte aus diesen Erwägungen sogar fast ein Management-Prinzip entwickeln: Wer dieses Gefühl der Unsicherheit verloren hat, ist möglicherweise für das Thema der Beherrschbarkeit komplexer (EDV-)Systeme nicht ausreichend sensibel.

Wenn man in dem vorgeschlagenen Sinne das gemeinsame Gespräch über Unsicherheiten zum notwendigen Bestandteil von EDV-Einführungsstrategien macht, dürfte sich dies als eine notwendige Bedingung für den Erfolg von EDV-Implementierungen in Organisationen erweisen. Selbstverständlich geht es dabei um die Transformation dieser Situation in Routinen ruhiger Gewißheit, es handelt sich also um ein Durchgangsstadium, allerdings um ein Durchgangsstadium, das man nur um den Preis von Effizienzverlusten überspringen kann.

Wer vom Umgang mit Unsicherheit und Angst spricht, handelt bereits von dem nächsten wichtigen Thema, dem der Akzeptanz. Es scheint die Frage der Akzeptanz zu sein, die in der gegenwärtigen Phase der EDV-Implementation in justiziellen Abläufen zur kritischen Größe wird. Wir alle kennen Edv-mäßig korrekt eingerichtete Verfahren, denen die Gefolgschaft verweigert wird. Die Ursachen dafür sind vielschichtig und können hier nicht alle angesprochen werden. Einige wesentliche Punkte gilt es jedoch zu benennen, weil die Akzeptanzverweigerung stellenweise Ausmaße angenommen hat, die ein politisches Problem darstellen, wenn man die in solchen Projekten aufgewendeten Budgets betrachtet. Teilt man diese Ansicht, bedarf es einer Strategie zur Akzeptanzverbesserung. Ein erstes Element einer solchen Strategie wurde beim Thema „Offener Umgang mit Unsicherheit“ bereits genannt. Ein weiteres Element ist die pädagogische Begleitung von EDV-Einführung in der Justizorganisation.

EDV-Einführung in der Justizorganisation –

die Notwendigkeit pädagogischer Begleitung

Das pädagogisch behutsame Heranführen an neue EDV in alten Organisationen gehört zu den wesentlichen Begleitparametern, auf die eine erfolgreiche EDV-Strategie wesentlich angewiesen ist. Wer dazu im eigenen Umfeld informelle Beobachtungen anstellt (ich rechne die Universitäten ausdrücklich diesem Umfeld zu), wird sich der Einsicht nicht verschließen können, daß es damit nicht immer zum besten bestellt ist.

Geht man der Frage nach, woran es fehlt, stößt man als erstes auf die vielfach fehlende Zeit für die ruhige Einarbeitung in das Neue. Zahlreiche EDV-Einführungen sind durch einen hektischen Zeitplan gekennzeichnet, der für das Erlernen der neuen Technologie nicht genug Freiraum läßt. Hier muß man die nötigen Zeitbudgets einplanen, um das reibungslose Hineinwachsen in die ja notwendigerweise unvertraute neue Technologie zu ermöglichen. Als es in der österreichischen Justiz vor Jahren um die Einführung eines neuen Programmsystems in der Justiz ging, hat man eine vorbildliche Lösung gefunden, die wie folgt aussah: Es wurde ein computergestütztes Lernsystem erstellt, das in die Handhabung des neuen Programms einführte. Für das Durcharbeiten dieses Lernprogramms wurde den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein definierter Teil der Dienstzeit zur Verfügung gestellt. Daß das Lernprogramm zu lösende Aufgaben enthielt, machte es möglich, am Ende ein Zertifikat auszustellen, in dem das neu erreichte Kompetenzprofil bescheinigt wurde. Dieses Modell war erfolgreich, unter anderem wohl auch deswegen, weil es sich der einzuführenden Programmlösung entsprechend als e‑learning-Programm präsentierte und so die künftige Lern- und Arbeitsumgebung als eine Einheit erfahrbar werden ließ.

Das eben zitierte Beispiel macht noch ein weiteres deutlich: Man muß das Erlernen der neuen EDV-Lösung in einer Umgebung stattfinden lassen, die von den auf reale Arbeitsergebnisse abzielenden Zusammenhängen in diesem System getrennt ist. Für diese Notwendigkeit gibt es mehrere Gründe. Einer der gewichtigsten dürfte der sein, daß der Versuch, in einer neuen Arbeitsumgebung das Neue zu lernen, immer mit Unsicherheit, ja Nervosität verbunden ist. Der Gedanke, man könne irgendetwas zerstören, wird – wenn auch nur unterbewußt – stets gegenwärtig sein. Deshalb gilt es, für das Lernen klarzustellen, daß man sich in einer Labor-Umgebung bewegt, in der real-gefährliche Konsequenzen nicht zu besorgen sind.[2] Innerhalb der Wiki-orientierten Plattformen, die zunehmend an Popularität gewinnen, hat man deshalb die Sandkasten-Metapher[3] gewählt, um der eben beschriebenen Notwendigkeit Rechnung zu tragen: Im Sandkasten droht keine Gefahr.

Die Notwendigkeit der pädagogischen Begleitung –

und die Konsequenzen

Nimmt man die These von der zwingend erforderlichen pädagogischen Begleitung von EDV-Einführung ernst, ergeben sich weitere Folgerungen.

Die erste folgenreiche Konsequenz ist die, daß man die pädagogische Einbettung von EDV-Innovationen alsDauerprogramm zu begreifen hat. Denn wegen des schnellen Zyklus der Erneuerungen im EDV-Bereich sind punktuelle Maßnahmen ohne Dauerkonzept prinzipiell nicht mehr sinnvoll.[4]

Eine weitere Konsequenz ist die, daß man die Etablierung von EDV-Kompetenz als zentrale Aufgabe der Juristenausbildung begreifen sollte. Schließlich ist in Zukunft kein juristischer Arbeitsplatz mehr denkbar, der ohne fundierte EDV-Kenntnisse kompetent genutzt werden könnte. Es erstaunt vor diesem Hintergrund, daß man bei der Neugestaltung des Richtergesetzes verabsäumt hat, der Informatik-Kompetenz den gebührenden Platz einzuräumen.[5] Auch in der Referendarausbildung gibt es noch entsprechende Defizite. Immerhin hat der saarländische Gesetzgeber mit zwei Initiativen den notwendigen Weg vorgezeichnet.

In § 1 Abs. 2 des Saarländischen Juristenausbildungsgesetzes heißt es:

„Die erste juristische Prüfung soll feststellen, ob die Bewerberin/der Bewerber das Studienziel erreicht hat und für den juristischen Vorbereitungsdienst fachlich geeignet ist. Die Bewerberin/der Bewerber soll zeigen, dass sie/er das Recht mit Verständnis erfassen und anwenden kann, die dazu erforderlichen rechtswissenschaftlichen Methoden unddie Instrumente der elektronischen Datenverarbeitung beherrscht und über die notwendigen Kenntnisse in den Prüfungsfächern verfügt.“

Zusätzlich besteht im Saarland die Möglichkeit, im Rahmen der Referendarausbildung eine Wahlstation „Rechtsinformatik“ zu absolvieren. Diese gesetzgeberische Entscheidung beruht auf der zutreffenden Erkenntnis, daß Rechtsinformatik-Kompetenzen mindestens kraft einer Wahlentscheidung zum Bestandteil des juristischen Berufsprofils werden können sollen.

„EDV ist Chefsache“ –

und die Folgen

Wer die zentrale Bedeutung der EDV für jede Form künftiger Justiz-Organisation bejaht, wird der Folgerung nicht ausweichen können, daß die Gestaltung der wesentlichen Parameter für diese Zukunftsaufgabe „Chefsache“ ist. Aus dieser Annahme folgt sehr Gehaltvolles für den Führungsstil.

Eine erste naheliegende Folgerung ist die, daß man in einer Führungsposition die EDV-Fragen den grundlegenden Prinzipien nach an sich heranlassen muß. Das erfordert vielfach einen Bruch mit bestehenden Delegationsmechanismen. Zugleich wird dabei oft deutlich, daß EDV-Abteilungen Entscheidungskompetenzen zugewachsen sind, die mit EDV-Kompetenz nicht zu begründen sind. Ein vergleichbares Phänomen ist in anderen Fachabteilungen nicht anzutreffen. Verantwortlich für diesen politisch problematischen Umstand dürfte die Tatsache sein, daß die Politik teilweise auf der Ebene der Führungsverantwortung eine zu große Distanz zur Informationstechnologie kultiviert hat.

Wenn sich die politische Verantwortungsebene auf die EDV-Dynamik in der gebotenen Weise einläßt, begegnet sie allerdings einer Herausforderung der besonderen Art. Die Erfahrung hat gezeigt, daß die effektive Implementation von EDV-Erneuerungspotential mit einer Verflachung von Organisationshierarchien einherzugehen pflegt. Daß dies eine ernste Anfrage an das Justizsystem darstellt, liegt auf der Hand. Zugleich erklärt dieser Umstand manche Abstoßungsmechanismen gegenüber der EDV in hierarchisch geprägten Systemen.

EDV in der Justiz –

und Gerechtigkeit

Kehren wir am Ende zu einer der Ausgangsfragen zurück: Gibt es für den EDV-Einsatz in der Justiz gehaltvolle, mit dem wesentlichen der Justiz in Beziehung stehende Gründe, die über bloße Modernitätserwägungen hinausreichen? Eine Antwort wurde bereits angedeutet. Wenn EDV zur Beschleunigung der Justizgewährung beitragen kann, dient sie der Gerechtigkeit. Und das gilt noch in einem weitergehenden Sinn. EDV-gestützte Informationssysteme erlauben uns, die Frage der Gleichbehandlung gleicher Fälle auf ein neues Präzisionsniveau zu heben, was der Gerechtigkeit in ihrer formellen Ausprägung dient.[6] Es geht also, nimmt man alles nur in allem, um mehr als eine bloße Automatisierung von Justiz. Wenn sich die dafür nötige Sensibilität einstellt, muß uns um den Dialog zwischen Informatik und Justiz nicht mehr bange sein.


[*]Der Text beruht auf einem Vortrag, der beim außerordentlichen Treffen der Landesjustizverwaltungen in Wildeshausen am 3. Juni 2004 gehalten wurde. Teilweise werden dabei auch Gedanken aus der Diskussion aufgegriffen.

[**]Geschäftsführender Direktor des Instituts für Rechtsinformatik an der Universität des Saarlandes (http://rechtsinformatik.jura.uni-sb.de) und Vorsitzender des Deutschen EDV-Gerichtstages (www.edvgt.de).

[1] Diese Debatte wurde vor geraumer Zeit rund um das Thema „Expertensysteme“ mit Engagement geführt. Es empfiehlt sich auch diesbezüglich, zur Vermeidung allfälliger Mißverständnisse von „Entscheidungsunterstützungssystemen“ zu sprechen.

[2] Eine derartige Umgebung will die vom EDV-Gerichtstag geplante EDV-Akademie der Justiz zur Verfügung stellen.

[3] Wer sich mit einer Wiki-Umgebung und dem darin enthaltenen Sandkasten vertraut machen will, kann dies (zugleich mit juristischen Erkenntnisgewinnen außerhalb des dortigen „Sandkastens“) im Jura-Wiki tun (http://www.jurawiki.de).

[4] Das gilt übrigens nicht nur für die pädagogische Frage. Der akzelerierte Innovationsrhythmus stellt auch andere staatliche Planungsszenarien sehr grundsätzlich in Frage.

[5] Der insoweit einschlägige § 5a Abs. 3 des Deutschen Richtergesetzes lautet in dem hier interessierenden Abschnitt:

„Die Inhalte des Studiums berücksichtigen die rechtsprechende, verwaltende und rechtsberatende Praxis einschließlich der hierfür erforderlichen Schlüsselqualifikationen wie Verhandlungsmanagement, Gesprächsführung, Rhetorik, Streitschlichtung, Mediation, Vernehmungslehre und Kommunikationsfähigkeit.“

Man vermißt in diesem Kanon die Rechtsinformatik (und übrigens auch die Logik als Grundlagendisziplin der Rechtsinformatik).

[6] Vgl. Dazu Maximilian Herberger, Can computing in the law contribute to more justice?

JurPC Web-Dok. 84/1998, Abs. 1 – 26 ( http://www.jurpc.de/aufsatz/19980084.htm )

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