Elektronischer Rechtsverkehr und Anwaltschaft
Zeit: | Donnerstag, 25. September 2003, 15.00 Uhr |
Ort: | HS 105 |
Moderation: | Herr Richter am Amtgericht Dr. Wolfram Viefhues, Herr Rechtsanwalt Dr. Thomas Lapp |
Referenten: | Herr Prof. Dr. Mathias Groß, Herr Rechtsanwalt Helmut Becker, Herr Rechtsanwalt Ralf Binder, Herr Rechtsanwalt Dr. Helmut Redeker |
Dokumente: | Protokoll |
Beim Bundesgerichtshof wird seit Herbst 2001 elektronischer Rechtsverkehr praktiziert; der Bund hat durch die Verordnung über den elektronischen Rechtsverkehr beim Bundesgerichtshof die rechtlichen Grundlagen für den elektronischen Zugang zu den Zivilsenaten des Bundesgerichtshofs geschaffen. Das Finanzgericht Hamburg hatte zuvor als erstes Gericht in Deutschland elektronische Klagen entgegen genommen und befindet sich nach einer längeren Pilotphase seit Anfang 2002 im Echteinsatz. Die Bundesjustizministerin hat Anfang 2003 einen Referentenentwurf eines Justizkommunikationsgesetzes (JKomG) vorgelegt, der deutlich macht, dass der elektronische Rechtsverkehr mit Macht vorangetrieben werden soll. Ein Vorentwurf dieses Gesetzes ist auf dem EDV-Gerichtstag 2002 unter der Bezeichnung “Diskussionsentwurf eines Gesetzes zur Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs” (ERVG) bekannt gegeben worden.
Die Erwartungen und Ziele des Bundesgesetzgebers, der die Gesetzgebung zum elektronischen Rechtsverkehr mit großer Dynamik betreibt, sind hoch gesteckt. Der elektronische Rechtsverkehr wird jedoch nur dann zu einer Erfolgsstory, wenn nicht nur abstrakte Regelungen getroffen werden, sondern wenn die Beteiligten — neben den Landesjustizverwaltungen vor allem die Anwälte — “mitgenommen” werden, also auch auf deren praktische Belange ausreichend Rücksicht genommen wird.
Die vorgesehenen gesetzlichen Regelungen des JKomG regeln zwar nur das gerichtliche Verfahren und ermöglichen vor allem eine elektronische Aktenführung bei den Gerichten. Der elektronischer Rechtsverkehr bei den Gerichten wird aber aufgrund der dadurch ausgelösten arbeitsorganisatorischen Änderungen eine Reihe von Auswirkungen auch auf die zukünftige Arbeit in den Anwaltskanzleien und auch die Kommunikation zwischen Anwalt und Mandantschaft haben. Den damit verbundenen Fragestellungen soll dieser Arbeitskreis nachgehen.
Der erste Teil des Arbeitskreises befasst sich mit einem Forschungsprojekt zum elektronischen Rechtsverkehr zwischen Anwaltskanzleien und Mandanten, das die Fachhochschule Nordostniedersachsen im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung durchführt — dem Projekt EMFAD. Ziel des Projektes ist die Entwicklung eines Software-Prototypen, der es Mandanten ermöglicht, ohne zusätzliche Installation eigener Software am elektronischen Rechtsverkehr teilzunehmen und an bestehende Anwaltssoftwarelösungen anzukoppeln. Das Projekt hat eine Laufzeit von 2 1/2 Jahren und endet am 31.12.2004.
Konkret soll Mandanten eine Lösung bereitgestellt werden, über die sie einerseits Informationen via Internet an ihre Anwaltskanzlei übermitteln können, andererseits aber auch Anwälte dort Informationen zum jeweiligen Fall hinterlegen können, so dass letztlich eine elektronische Akte entsteht, auf die der Mandant jederzeit zugreifen kann. Gelingt es, dieses Ziel nicht nur als Insellösung auf Anwaltsseite zu etablieren, sondern auf den gesamten Rechtsverkehr auszuweiten, ergeben sich für alle Beteiligten erhebliche Einsparpotentiale.
Gleichzeitig ist es möglich, den Arbeitsablauf und die Kommunikation aller Beteiligten untereinander während eines Verfahrens effektiver und transparenter zu gestalten. Die Dauer zwischen der Eröffnung und dem Abschluss eines Verfahrens kann damit deutlich gestrafft werden. Das Projekt knüpft dabei an den von der Bund-Länder-Kommission “Arbeitsgruppe elektronischer Rechtsverkehr” der Justizministerkonferenz bestimmten Standard XML an und soll damit einen nahtlosen Transfer von Daten zu den von der Justiz vorgegebenen Schnittstellen ermöglichen.
Um einen fortwährenden Informationsaustausch zwischen den am elektronischen Rechtsverkehr Beteiligten zu gewährleisten, wurde zusätzlich der Verein “lexellence” mit Sitz in Hamburg gegründet. Dem Verein gehören Hersteller von Anwaltssoftware, Vertreter der Anwaltschaft, Zulieferer von Anwaltskanzleien sowie Hochschulen an.
All diese Bestrebungen werden jedoch — zum Nutzen aller Beteiligten — nur von Erfolg gekrönt sein, wenn es gelingt, eine unterbrechungsfreie (Kommunikations-)Kette vom Bürger über den Anwalt bis hin zu den Gerichten abzubilden. Das Fehlen dieser Wertschöpfungskette gefährdet den Erfolg der Pilotprojekte der Justiz.
Der zweite Teil des Arbeitskreises soll den Fokus auf den Blickwinkel der Anwaltschaft richten, denn es besteht sicherlich die Notwendigkeit, gerade auch anwaltliche Interessen in die Diskussion um den elektronischen Rechtsverkehr einzubinden und die Überlegungen — auch im Hinblick auf die Neugestaltung von Arbeitsabläufen — dringend im beiderseitigen Interesse aufeinander abzustimmen.
Dabei greift die in Zusammenhang mit dem elektronischen Rechtsverkehr weit verbreitete Klage über fehlende bzw. unzureichende Anwendungsszenarien etwas zu kurz. Das große Anwendungsszenario ist der bereits existierende Rechts- und Geschäftsverkehr auf den inzwischen globalen Märkten. Der moderne Rechtsanwalt hat dies erkannt, er sieht sich nicht mehr primär als Organ der Rechtspflege, sondern als Dienstleister für seine Mandanten. Die sich aus diesen Fakten ergebenden Anforderungen muss auch die Justiz annehmen und erfüllen. Hierzu gehört nicht nur das Selbstverständnis einer Justiz als dritter staatlicher Gewalt, sondern auch der Aspekt, dass die Justiz die Rolle eines Dienstleisters für die Rechtssuchenden übernehmen muss. Diese Aufgabe und die sich daraus an eine moderne rechtliche Infrastruktur stellenden Anforderungen kann die Justiz aber nur gemeinsam mit der Anwaltschaft erfüllen. Es ist daher eine sehr viel stärkere Einbindung der Anwaltschaft und nicht deren Ausgrenzung — wie zum Beispiel im Hinblick auf die (Nicht-) Berücksichtigung des Berufsattributs “Rechtsanwalt” bei der elektronischen Signatur in den Gerichtsverfahren — notwendig.
Zu erörtern bleibt aber auch, ob die Vorstellungen des JKomG von einer vollelektronischen Aktenführung im Prozess praktisch mit Leben erfüllt werden können. Zumindest verlangen die Prozessordnungen vielfach die Vorlage zahlreicher Anlagen, die bislang nur in Papierform vorhanden sind und sich kaum vollständig einscannen lassen. Nicht alle Prozessformen lassen sich daher vollständig elektronisch durchführen.
Die praktischen Erfahrungen der letzten Jahrzehnte haben auch gezeigt, dass die Frage, wie sich Kommunikationswege und elektronische Techniken entwickeln, nur sehr begrenzt vorstrukturierbar ist. Hier hat es immer wieder Überraschungen gegeben — man denke nur an die Entwicklung von Telefax über Teletext bis zum sicherlich von niemanden geplanten Siegeszug von Internet und insbesondere E‑Mail. Hinterfragt werden muss daher auch, ob die jetzt schon getroffenen technischen Festlegungen des JKomG nicht möglicherweise die Entwicklung eher behindern als fördern.
Insgesamt ist bereits jetzt absehbar, dass das geplante JKomG für Justiz und Anwaltschaft erhebliche Schwierigkeiten mit sich bringen wird, die ein Überdenken der forcierten Vorgehensweise nahelegen. Nur ein abgestimmtes Verfahren, dass für die Anwaltschaft kompatibel und handhabbar ist, wird eine breite Verwendung ermöglichen. Eine Einigung über Formate zum Austausch von Daten und Dokumenten auch in den Bereich der Anwaltsprogramme und die Kommunikation mit der Mandantschaft hinein ist unabdingbar. Auch die Verfahrensweise muss abgestimmt werden. Überdies muss mit Rücksicht auf die internationalen Verflechtungen eine EU-kompatible Lösung angestrebt werden.