Praktikum
Mit dem Gerichtsschiff auf dem Amazonas
Praktikum beim Juizado Itinerante Fluvial in Macapá, Amapá (Brasilien)Bei der Ankunft am Flughafen in Macapá, nach vielen Stunden Flug und einem ganzen Tag Aufenthalt am Flughafen in Belém, meldet der Pilot eine Temperatur von 26 Grad um ein Uhr nachts. Das ist mein erster Eindruck von der einzigen Hauptstadt eines brasilianischen Bundesstaates, die auf der linken Seite des Amazonas und zudem direkt am Äquator liegt. Von Belém aus muss man fliegen oder einen Tag mit dem Schiff fahren, um nach Macapá zu gelangen, denn natürlich gibt es hier weit und breit keine Brücke über den Fluss der Flüsse.
Die Stadt an sich bietet nichts, das viele Touristen anziehen würde – mal abgesehen von der Möglichkeit, mit einem Fuß in der nördlichen und mit dem anderen in der südlichen Hemisphäre zu stehen, am Ufer des imposanten Amazonas Eis aus exotischen Früchten oder die leckeren Krabben zu essen oder die alte portugiesische Festung zu besuchen. Jedoch hat ein großartiges juristisches Projekt das Interesse von Journalisten auf der ganzen Welt geweckt: die sogenannten Juizados Especiais – die besonderen Gerichte, wo einfach gelagerte Fälle schnell, unbürokratisch und für die Beteiligten kostenfrei gelöst werden können. Besondere Aufmerksamkeit haben dabei die Juizados Itinerantes („wandernde Gerichte“) auf sich gezogen: Das Gericht verlässt seine heiligen Hallen und begibt sich per Bus und Schiff direkt zu den hilfesuchenden Menschen, die häufig nicht lesen und schreiben können und denen aufgrund mangelnder Bildung und Information sowie der schlechten Infrastruktur der Zugang zu den ordentlichen Gerichten erheblich erschwert ist. Schon mehrmals haben amerikanische, australische und deutsche Reporter (u.a. vom Spiegel) die Richter auf ihren außergewöhnlichen „Dienstreisen“ begleitet. Im August diesen Jahres hatte ich die Möglichkeit, die Arbeit des Juizado Itinerante Fluvial vor Ort kennen zu lernen und eine Woche auf dem Gerichtsschiff mitzureisen.Alle zwei Monate begibt sich das Gericht mit Sack und Pack, Akten und Notebook auf ein Amazonasschiff und verbringt eine Woche damit, einfach gelagerte Fälle des Zivil- und Strafrechts in Gemeinden zu lösen, die nur per Fluss erreichbar sind. Straßen gibt es keine durch den dichten Regenwald, und die Stadt Macapá ist eine Tagesreise oder mehr von den kleinen Siedlungen am Ufer entfernt. Zwei Richter, ein Staatsanwalt und ein vom Gericht beauftragter Rechtsanwalt bilden den Kern des juristischen Personals. Die Verhandlungen finden zumeist auf dem Schiff statt; Kläger und Beklagte kommen im Kanu herangepaddelt und klettern über Planken an Deck. In den größeren Orten wird das Gemeindezentrum zur Verfügung gestellt.Typische Fälle sind Streitigkeiten wegen nicht bezahlter Rechnungen, mangelhafter Leistung oder Schadensersatzforderungen, ganz alltägliche Dinge. Daneben geht es viel um Jagd und Fischerei, denn damit verdient ein Großteil der dort lebenden Menschen seinen Lebensunterhalt. Auch mit Sorgerechtsangelegenheiten beschäftigt sich das Gericht häufig – eine Familie mit zehn Kindern ist hier keine Seltenheit, und nicht immer haben alle den gleichen Vater. Das zieht selbstverständlich auch erbrechtliche Probleme nach sich: Wer bekommt das Stück Land am Fluss, und wie groß soll das Grundstück sein?
Im Allgemeinen sind die Fälle einfach gelagert, und der Richter ist bestrebt, einen Vergleich zwischen den Parteien herbeizuführen, was häufig auch gelingt. Allerdings scheint es schon etwas seltsam, wenn eine Frau sich von ihrem Ehemann scheiden lassen will und der Richter so lange mit den beiden diskutiert, bis sie beschließt, es doch noch einmal mit ihm zu versuchen, wenn er verspricht, weniger Cachaça zu trinken.Es kommt vor, dass jemand das Dokument mit dem eben geschlossenen Vergleich nicht mit seinem Namen unterzeichnen kann, sondern einen Fingerabdruck geben muss – der Anteil der Bevölkerung, der nicht lesen und schreiben kann, ist erschreckend hoch. Viele Menschen besitzen keine Geburtsurkunde und lassen sich erst im fortgeschrittenen Alter offiziell registrieren, was einige Probleme mit sich bringen kann, etwa wenn sich jemand seines Geburtsdatums nicht ganz sicher ist oder ein Mädchen einen Jungennamen trägt. Derartige Fälle erfordern eher Einfühlungsvermögen und Geduld als juristische Kenntnisse, doch die Richter meistern auch solche bei uns fast unvorstellbaren Angelegenheiten mit viel Elan und Witz.Geschlafen wird an Deck in Hängematten, die dicht an dicht nebeneinander von der Decke baumeln. Die verschiedenen leuchtenden Farben und Muster der Hängematten bilden einen hübschen Kontrast zu dem braunen Wasser des mächtigen Amazonas und dem dumpfen Grün des dichten Waldes am Ufer. Das Wasser der Dusche und der Klospülung (es gibt je ein Bad für Damen und Herren) kommt direkt aus dem Fluss. Tagsüber herrscht eine Temperatur von etwa 35 Grad, aber die drückende Schwüle, die ich erwartet hatte, bleibt aus – für einen sonnenhungrigen Mitteleuropäer ist ein Monat amazonisches Klima eher ein Segen als eine Belastung!Für Essen und Trinken ist bestens gesorgt: Am Heck des Bootes befindet sich eine mit Gasherd ausgestattete Küche, und der eigens für das leibliche Wohl der Reisenden angeheuerte Koch zaubert aus frisch gefangenem Fisch, Reis und Nudeln wirklich leckere Gerichte. Ab und zu gibt es sogar einen süßen Nachtisch aus der köstlichen Cupuaçu-Frucht, und wenn es einmal nicht so viel zu tun gibt, fährt eine Abordnung mit dem Motorboot zu einem freundlichen Kleinbauern, der uns bereitwillig aus seinem Obstgarten Orangen und Kakaofrüchte ernten lässt. Der Nachschub an Cola und dem brasilianischen Erfrischungsgetränk Guaraná scheint unerschöpflich, und Mineralwasser aus dem Wasserspender ist auch immer da, zum Trinken und Zähneputzen. Da das Boot über Nacht auf dem offenen Fluss bleibt, wird man auch kaum von Ungeziefer belästigt. Klar gibt es Mücken, aber viel weniger als erwartet, und mit der Malaria-Vorsorge und diversen Impfungen lässt sich das Krankheitsrisiko wirksam minimieren.Neben dem juristischen Personal begleiten Vertreter zahlreicher Ämter die Flussfahrt, um der Bevölkerung im Regenwald Dienstleistungen anzubieten. So werden etwa Personalausweise und Wahlberechtigungsscheine ausgestellt. Die Passfotos werden sofort mit einer mitgebrachten Kamera vor einem ausrollbaren blauen Poster im Freien gemacht, und man reagiert mit Erstaunen auf meine Bemerkung, dass die Leute immer so grimmig aussähen: Auf einem offiziellen Dokument darf man doch nicht lächeln! Ab und zu müssen die Antragsteller unter den strengen Augen der Beamten erst ihre Unterschrift üben, wenn sie nicht wollen, dass der Vermerk „Analphabet“ in ihrem Ausweis erscheint. Sozialarbeiter machen sich vor Ort ein Bild von der Situation in Problemfamilien und informieren über staatliche finanzielle Unterstützung. Mit an Bord sind auch ein Arzt und mehrere Krankenschwestern, die zum Beispiel Impfungen durchführen und Medikamente ausgeben.
Richterin Sueli Pini, die aufgrund ihres großen Engagements und ihrer sympathischen, liebenswerten Art von den Kollegen eine gute Fee genannt wird, ist für die Organisation der Fahrten des Gerichtsschiffs und der Busse zuständig. Sie erklärt, worin sie ihre Hauptaufgabe sieht: Es geht darum, streitenden oder gar verfeindeten Parteien ein neutrales Forum zu bieten, wo sich jemand ihrer Konflikte annimmt und dabei hilft, eine für beide Seiten annehmbare Lösung zu finden. Die friedensstiftende Funktion des Rechts steht im Vordergrund. Die Gerichte stehen im Dienste der Bevölkerung, und sie sollen auch und gerade für die unvermögenden und ungebildeten Menschen zugänglich sein, die geografisch weit entfernt von jeder staatlichen Behörde leben. Dass dieses Vorhaben gelingen kann, beweist der große Erfolg der wandernden Gerichte: Neben Macapá gibt es bereits andere Orte in Brasilien, wo Richter und Anwälte ihre Robe für ein paar Tage gegen Shorts und Sonnenhut austauschen und sich auf den Weg in abgelegene Gebiete machen, um den Menschen dort dieselbe Gerechtigkeit zukommen zu lassen wie der Stadtbevölkerung.Unvergesslich war nicht nur der Einblick in eine ausländische Rechtsordnung (die der unsrigen übrigens ziemlich ähnlich ist, was das Zivilrecht betrifft), sondern auch und vor allem die enorme Gastfreundschaft, die mir entgegengebracht wurde. Von meiner Gastfamilie wurde ich vortrefflich umsorgt, und wo immer ich hinkam, wurde ich bereits mit Spannung erwartet und mit großer Freundlichkeit und Interesse empfangen.
Alles in allem habe ich eine aufregende, unglaublich interessante und wunderschöne Zeit in Brasilien verbracht, und eine Einladung für weitere Besuche gibt es natürlich auch schon.
Bettina Leupold
2002