Grußwort des Vorsitzenden
“Mit der Technik von heute zur Justiz von morgen”
EDV-Gerichtstag 2003
Als bei der letzten Vorstandssitzung in Berlin auf Zuruf hin nahezu durch Akklamation das diesjährige Rahmenthema für unseren Gerichtstag beschlossen wurde, blieb auf Grund spontaner Begeisterung unentschieden, ob es als
“Mit der Technik von heute zur Justiz von morgen!”
oder als
“Mit der Technik von heute zur Justiz von morgen?”
zu lesen und zu schreiben sei.
Und so steht nun unser Motto ein wenig unentschieden ohne Ausrufe- und ohne Fragezeichen im Internet und in der Überschrift zu diesem Grußwort.
(An dieser Stelle sei übrigens dem Bundesministerium der Justiz für die Gastfreundschaft gedankt, auf Grund derer wir in dem schönen Sitzungssaal mit Blick in Richtung Gendarmenmarkt tagen durften — eine wirklich inspirierende Umgebung!)
So wie nun also auf Grund der geschilderten Gegebenheiten unser diesjähriges Rahmenthema dasteht, könnte man es auf den ersten Blick für ein geradezu paradoxes halten:
Soll es wirklich möglich sein, mit der Technik von heute zur Justiz von morgen zu gelangen? Sollte man nicht eher und in angemessener Weise sagen “Mit der Technik von morgen zur Justiz von morgen”?
So schön ausgewogen diese Variante vielleicht klingt: In einer derartigen Programmatik hätte man es mit zwei beweglichen Zielen prognostisch ungewisser Art zu tun (übrigens beide mit deutlich unterschiedlichen Erneuerungsrhythmen und unterschiedlich ausgeprägter Prognostizierbarkeit). Also muß es wohl dabei bleiben, daß wir uns realistischerweise nur vornehmen können, mit einem beweglichen Ziel zu arbeiten — und dafür reicht die Justiz allemal aus. In aller Vorsicht kann man dann versuchen, die uns (so hoffen wir) vertraute Technik von heute vorsichtig mit dem Modell der künftigen Justiz in eine instrumentelle Verbindung zu bringen, die wir für verläßlich voraussagbar und annehmbar halten. Und falls dies doch Reste von Paradoxie enthalten sollte: Mit manchen Paradoxien läßt sich gut leben. So wissen wir z.B. relativ verläßlich, daß Achilles die Schildkröte einholt, obwohl doch der Abstand zwischen ihm und ihr (streng betrachtet) immer nur kleiner (aber nie Null) werden kann. So wird es (um im Bild zu bleiben) wohl auch möglich sein, der Justiz von morgen mit der Technik von heute auf der Spur zu bleiben — oder auf die Sprünge zu helfen. Doch muß es dafür wie bei allem, was sich zunächst paradox ausnimmt, ein Erfolgsgeheimnis geben, eine verläßlich extrapolierbare Regelmäßigkeit, die uns hoffen läßt, mit dem scheinbar paradoxen Auftrag fertigwerden zu können. Worauf sich diese Hoffnung gründen läßt, wird der EDV-Gerichtstag mit konkreten Beispielen als Prüfstein auszuloten versuchen. Ohne diesen Beratungen allzu sehr vorgreifen zu wollen, läßt sich doch mit aller Vorsicht eine Richtung ausmachen, in der Planungen mit Zukunftsverantwortung sich bewegen sollten: Die Entwicklung und Beachtung von offenen Standards. Machen wir die Probe auf´s Exempel. Auch die Justiz von morgen wird ihr Wissen über Verfahren und Inhalte in einer normierten Form weitergeben müssen — sonst könnte es keine Kontinuität zur Justiz von übermorgen geben. Und die Technik von heute bietet dafür die Möglichkeiten: Das Stichwort “XML” steht für die Gesamtheit der verfügbaren Techniken, die das Festlegen (und das Weiterreichen) strukturierten Wissens ermöglichen. Und die Devise “Semantic Web” steht für die Gesamtheit der verfügbaren Techniken, die eine bedeutungsvolle Kommunikation abzubilden geeignet sind. So schafft die Technik von heute die Grundlagen für den Umgang mit juristischen Grundwerten methodischer Art: Eine Justiz von morgen kann es im echten Sinne des Wortes nur geben, wenn es gelingt, eine kommunikative Tradition des Wissenstransfers in präzisen Formen aufrechtzuerhalten. (Wenn Skeptiker an dieser Stelle statt “aufrechtzuerhalten” sagen würden “zu begründen”, wüßten sie sich der gleichen Zielsetzung verbunden.) All dies ist angesichts der reichhaltigen Komplexität des Wissens, die uns ohne Hilfsmittel überfordert, nur mit “Technik” möglich. “Technik” darf dabei ganz traditionell verstanden werden: Seit der Antike gilt uns die “techne” (= ars = Kunst-fertigkeit) als rationale Erfahrungskunst, die es uns erlaubt, für einen praktischen Zweck im Leben verläßliche Regeln zu entwickeln. Instrumente einer so verstandenen Technik (und nicht die Technik selbst!) sind heute die Computer — bei rechtem und klugem Gebrauch. Dieser Gedanke bietet (zugegebenermaßen etwas assoziativ) Gelegenheit, ein Zitat einzuflechten, das auf einem Bleistift von IBM steht:
“Computer rechnen vor allem damit, daß der Mensch denkt.”
(Ich bin sicher, daß alle dankenswerterweise in der Firmenbegleitausstellung des EDV-Gerichtstages präsenten Firmen sich diesem Motto anschließen können und daß IBM möglicherweise dieses Motto so in die “public domain” entläßt, daß daraus ein an allen EDV-Arbeitsplätzen präsenter firmenübergreifender “Standard” werden kann.)
Sollte an dieser Stelle der Eindruck entstanden sein, der Fluß der Assoziationen habe vom Tagungsthema hinweggeführt, muß dieser Impression abschließend entgegengetreten werden. Alles Gesagte diente dazu, für die folgende Lesart unseres Tagungsthemas zu plädieren:
“Mit der Technik von heute zur Justiz von morgen!”
(Maximilian Herberger)
P.S. Übrigens soll Sokrates listigerweise bemerkt haben, es bedürfe auch einer “techne”, um nach einer durchzechten Nacht den Weg nach Hause zu finden.