Strukturierung, Visualisierung und Programmierung von Recht
Zeit: | Freitag — 25.09.2009 — 11.00 Uhr |
Ort: | Hörsaal 112 |
Moderation: | Rechtsanwalt und Mediator Dr. Thomas Lapp (EDV-Gerichtstag) |
Referenten: | Prof. Dr. Stephan Breidenbach (Europa-Universität Viadrina) RiAG Lutz Geiselhart (Amtsgericht Limburg) Dr. rer. nat. Ulrich Gutdeutsch Dr. Werner Gutdeutsch (Richter am Oberlandesgericht a. D.) Prof. Dr. Fritjof Haft (Normfall GmbH) |
Dokumente: | Präsentation Geiselhart — Vortrag Gutdeutsch |
Die juristische Praxis greift vor allem in drei Fällen auf die EDV zurück:Seit Juristen erstmals Computern begegnet sind, besteht der Wunsch, die juristische Arbeit mit Computern zu vereinfachen. Dabei geht es nicht nur um den weit verbreiteten Einsatz von Computern als “verbesserte Schreibmaschine”, als Datenbank für Rechtsprechung und Literatur oder als Berechnungsprogramm (z.B. im Familienrecht oder Steuerrecht), sondern um eine möglichst weit gehende Unterstützung bei der eigentlichen juristischen Arbeit. In der Anfangszeit der Rechtsinformatik war man bestrebt, mit Expertensystemen die juristische Arbeit zumindest teilweise im Computer erledigen zu lassen. Heute geht es auch darum, IT-Tools zur Strukturierung von Rechtsfällen und zur Beherrschung von Akten und Dateien einzusetzen.
- Bei der Sichtung der überbordenden Zahl allgemeiner Rechtsquellen im weiteren Sinn (Gesetze, Urteile, Literatur), die durch Datenbanken, welche automatisch durchsucht werden können, erschlossen werden.
- Bei Großverfahren, bei denen die Menge der Informationen nicht mehr zu handhaben ist.
- Wenn – wie im Familienrecht oder bei der Abfassung von Verträgen – viele Probleme immer wiederkehren, die nicht jedes Mal neu durchdacht werden müssen oder wenn erhebliche Rechenarbeit zu leisten ist.
Der Arbeitskreis zeigt, was heute und in Zukunft an Unterstützung der juristischen Arbeit durch die Informationstechnologie auf dem Weg zur elektronisch unterstützten Rechtsanwendung möglich ist.
Am Anfang skizziert Prof. Haft die theoretischen Grundlagen des gegenwärtig gemeinsam von der Hessischen Justiz und ihm verfolgten Projektes zum Einsatz von IT bei den hessischen Gerichten und Staatsanwaltschaften. Basis seiner Darstellung ist die gewohnte juristische Arbeitsweise bei Bearbeitung komplexer Gegenstände, bei denen verschiedene Aspekte, etwa Personenaspekte, Sachverhaltsaspekte, rechtliche Aspekte, technische Aspekte, wirtschaftliche Aspekte und vieles weitere mehr einzubeziehen sind. Diese Aspekte sind regelmäßig Teilausschnitte von übergeordneten Aspekten, zu denen mitunter auch wieder Unteraspekte gehören, so dass sich Aspekthierarchien bilden, die in Baumstrukturen (Outlinern) dargestellt werden können. Die einzelnen Strukturpunkte (Chunks) können wiederum mit den Inhalten (Strings) von Akten und Dateien verknüpft werden, so dass die Multidimensionalität von Urkunden erstmals erfasst und beherrscht werden kann. Die Strings der Texte können mit beliebig vielen Chunks verknüpft werden. Umgekehrt können beliebig viele Texte an einen Chunk angebunden werden. Ein neu entwickeltes Relationsmodul erlaubt es, die Relationstechnik im Computer abzubilden und Urteile im Baukastensystem zu erstellen. Auf Basis der Forschungsarbeit von Prof. Dr. Haft wurde eine Software „Normfall“ entwickelt, die die genannten und weitere Leistungen (z.B. strukturierte Texterstellung) ermöglicht.
RiAG Lutz Geiselhart, Projektleiter des Projektes “E‑Duplo” der gemeinsamen IT-Stelle der hessischen Justiz in Bad Vilbel zeigt, wie die hessische Justiz dieses Instrument im Projekt E‑Duplo zur Visualisierung und Strukturierung komplexer Verfahren einsetzt. Den Hessischen Verwaltungsgerichtshof (VGH) in Kassel beschäftigen derzeit eine Vielzahl von Klagen gegen die Erweiterung des Frankfurter Flughafens. Nach erfolgreichem Einsatz im Eilverfahren setzt der VGH auch im Hauptsacheverfahren auf E‑Duplo. Das Bundesverwaltungsgericht plant ebenfalls den Einsatz dieser Software. Weitere Pilotgerichte und Staatsanwaltschaften in Hessen arbeiten ebenfalls mit der Normfall Software (u.a. LG Darmstadt, Staatsanwaltschaft Frankfurt/ Main), die im Jahre 2010 landesweit eingesetzt werden soll.
Im Anschluss daran skizziert Professor Dr. Breidenbach seine Forschungsergebnisse zur Visualisierung und Strukturierung von rechtlichen Problemen, die ihn zur Entwicklung der „Knowledge Tools“ geführt haben. Auch dieses Instrument ist zur Strukturierung und Visualisierung komplexer Verfahren geeignet und hat diese Eignung mehrfach in der Praxis bewiesen. Professor Dr. Breidenbach wird die Anwendung aus seiner Erfahrung in zahlreichen Großverfahren darstellen.
Daneben liegt die Stärke der „Knowledge Tools“ darin, bei der grundsätzlich individuellen anwaltlichen Arbeit, beispielsweise eine Beratung oder bei der Gestaltung von Schriftsätzen oder Verträgen die stets wiederkehrenden Abläufe, Gedankengänge und Entscheidungen zu standardisieren und damit fallübergreifend nutzbar zu machen. Ist diese Strukturierungsarbeit geleistet, kann der Anwalt in nachfolgenden Fällen die erneut auftretenden Fragen unter Nutzung der „Knowledge Tools“ mit minimalem Aufwand klären und kann sich dann den Fragen zuwenden, die individuelle und komplex sind und tatsächlich den Einsatz eines Spezialisten fordern. Breidenbach wird zeigen, dass auf diese Art und Weise schnell und effizient “Vorprodukte” entstehen, die dann durch den Anwalt individuell nachbearbeitet werden können. Er weist ausdrücklich auf die Grenzen derartiger Werkzeuge hin, für die der Grundsatz gilt: „A fool with a tool remains a fool.“ Bei sinnvollem überlegtem Einsatz sieht er jedoch den Weg zu, wie er es nennt, „industriellen Rechtdienstleistungen“ eröffnet. (siehe Prof. Dr. Stephan Breidenbach, Landkarten des Rechts — von den Chancen industrieller Rechtsdienstleistungen, in: Festschrift für Benno Heussen zum 65. Geburtstag. Der moderne Anwalt hg. Von Gerhard Pischel, Jochen Schneider 2009.) Darüber hinaus sieht er weitere Anwendungsbereiche. In vielen anderen beruflichen Umgebungen können auch komplizierte Texte – als Entwürfe (!) – semi-automatisch erzeugt werden, die im weitesten Sinne regelbasiert sind: Von Arztberichten, über Arbeitszeugnisse, jede Form von Texten in Bürokratien/Verwaltungen, bis zu richterlichen Urteilen.
Am Ende stellen Werner Gutdeutsch und Ulrich Gutdeutsch das juristische Expertensystem „Winfam“ vor, das ebenfalls der automatisierten Rechtsanwendung dient sowie dessen Weiterentwicklung zu einer allgemeinen Expertenshell. Diese soll es dem Experten ermöglichen, ohne weitere Programmierkenntnisse allein aus der rechtlichen Logik, der gewünschten Dialogführung und dem geplanten Textergebnis ein Dialogprogramm zu schaffen. Das soll den Weg zu einer dritten Form von Präsentation juristischen Expertenwissens neben Kommentar und Lehrbuch öffnen: dem Dialogprogramm. Das neue Tool wurde inzwischen bereits für die Programmierung des neuen Versorgungsausgleichs im Rahmen von „Winfam“ und des neuen Bewertungsgesetzes im Rahmen von „Winerb“ eingesetzt.