GK ERV: Aktivitäten der Kommission imletzten Jahr
Zeit: | Freitag — 17.09.2010 — 9.00 Uhr |
Ort: | Hörsaal 111 |
Moderation: | Dr. Wolfram Viefhues (Vorsitzender der Gemeinsamen Kommission elektronischer Rechtsverkehr) |
Referenten: | Katrin Jungclaus (Richterin am Oberlandesgericht Düsseldorf); Ulrich Rake (Richter am Amtsgericht, Oberlandesgericht Düsseldorf) |
Die Gemeinsame Kommission hat auch im letzten Jahr bei ihren regelmäßigen Sitzungen eine Vielzahl von Themen diskutiert und auch zwischen diesen Terminen eine Reihe von Aktivitäten entfaltet, um den elektronischen Rechtsverkehr weiter voran zu bringen. Der Arbeitskreis dient im ersten Teil dazu, einen kurzen Bericht über die Aktivitäten der Gemeinsamen Kommission zu geben.
Aufgabe der Gemeinsamen Kommission ist die Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs. Die bisherigen Erfahrungen in zahlreichen Pilotprojekten haben deutlich gemacht, dass der Einführung einer flächendeckenden rechtswirksamen elektronischen Kommunikation in gerichtlichen Verfahren einschließlich einer praktikablen, handhabbaren elektronischen Aktenführung noch zahlreiche Hindernisse im Wege stehen. In den Diskussionen der Kommission wurde dabei immer wieder an zahlreichen Beispielen deutlich, dass die geltenden verfahrensrechtlichen Regelungen, die sich entscheidend am Medium Papier orientieren, dabei nicht unverändert in die elektronische Welt übernommen werden können.
Die geltenden Verfahrensordnungen setzten die auf rechtsstaatlichen Grundsätzen basierenden Regelungen unserer gerichtlichen Abläufe mit den Mitteln der Bürotechnik des ausgehenden 19. Jahrhunderts um — Stempel, Siegel, Unterschrift sind die tragenden Säulen für die formalen Garantien rechtsstaatlicher Verfahrensabläufe; die papiergebundene Urkunde ist einer der Eckpfeiler des Beweisrechtes.
Vor diesem Hintergrund hat die Präsidentin des Oberlandesgerichts Düsseldorf eine Idee der Kommission aufgegriffen und das Projekt “Zivilprozessrecht auf dem Weg in die Zukunft” initiiert, um aus praktischer Sicht die Frage zu klären, ob unsere gesetzlich vorgegebenen Werkzeuge den heutigen Anforderungen und Möglichkeiten zeitgemäßer Kommunikations- und Bürotechnik noch entsprechen oder eher die Möglichkeiten einer effektiven Arbeit mit elektronischen Akten behindern. Es war an der Zeit, über diese Fragen unter einem neuen Ansatz — und ohne Denkverbote — neu nachzudenken.
Bislang wird lediglich versucht, die herkömmlichen Abläufe an elektronische Dokumente anzupassen, statt nach neuen Ansätzen zu suchen. Die Verfahrensvorschriften zum Zivilprozess beschränken sich bislang vor allem auf die elektronische Signatur als Unterschriftenersatz, zur Sicherung von Dokumenten und zur Erstellung einer öffentlichen Urkunde. Der Ansatz, die gewohnten Werkzeuge “Stempel, Siegel, Unterschrift” lediglich durch die “elektronische Signatur” zu ersetzen, hat sich aber bislang jedenfalls nicht als eine im Massenbetrieb der Praxis handhabbare Lösung erwiesen.
Gemeinsam mit Vertretern der Anwaltschaft und der Notare und mit wissenschaftlicher Begleitung haben sich Vertreter der gerichtlichen Praxis damit beschäftigt, inwieweit die Verfahrensvorschriften der ZPO die Einführung eines elektronischen Rechtsverkehrs ermöglichen und inwieweit sie ihn behindern und insofern der Anpassung bedürfen. Dabei waren durchaus auch unkonventionelle Gedanken und Lösungsversuche ohne Denkblockaden erwünscht. Kritisch hinterfragt worden ist, ob bzw. an welcher Stelle des Verfahrens und aus welchen Gründen es weiterhin einer menschlichen Erklärung bedarf, und wann die Technik diese — ggf. unter welchen Rahmenbedingungen — ersetzen kann.
Im Fokus stand weniger die elektronische Akte sondern vielmehr die elektronische Kommunikation zwischen Gericht und Anwalt aus konkret praktischer Sicht. Dabei konzentrierte sich die Diskussion im ersten Ansatz auf die aus gerichtlicher und anwaltlicher Sicht sehr relevanten Fragen der Zustellung, und zwar sowohl unter dem Aspekt, was zugestellt wird, als auch der Frage, wie dies durchgeführt wird. Unter Berücksichtigung der verschiedenen Elemente des Urkundenbegriffes und seiner Funktionen wurde untersucht, inwieweit die Formvorschriften der ZPO heute im elektronischen Rechtsverkehr ihren Sinn noch erfüllen können und inwieweit sie unter Aufrechterhaltung des Sinns und Zwecks der Vorschrift durch andere – technische – Mittel ersetzt werden können, die effektiver und einfacher eingesetzt werden können, aber eine vergleichbare Sicherheit gewährleisten.
Inwieweit sind tatsächlich Ausfertigungen nötig, die das Original im Rechtsverkehr ersetzen? Ist ein durch den Urkundsbeamten der Geschäftsstelle unterschriebener Beglaubigungsvermerk entbehrlich, wenn der Empfänger etwa durch die Behördensignatur und das eingesetzte technische System sicher sein kann, dass ein Dokument vom Gericht kommt und es technisch (nahezu) ausgeschlossen ist, dass es auf dem Weg verändert wurde?
In dem Arbeitskreis werden die Überlegungen der Arbeitsgruppe und die gewonnenen Ergebnisse vorgestellt. Diese lassen sich schlagwortartig wie folgt zusammenfassen:
- Der Einsatz moderner elektronischer Kommunikationsmittel ist bereits jetzt unproblematisch, soweit Tätigkeiten des Gerichts betroffen sind, die mehr oder weniger Dienstleistungscharakter haben (Terminabstimmungen, Erinnerungen, ergänzende Hinweise etc.).
- ormvorschriften der ZPO stehen der Vornahme wesentlicher Verfahrenshandlungen auf elektronischem Weg, insbesondere der Übermittlung bestimmender Schriftsätze und fristauslösender Mitteilungen des Gerichts, entgegen. Die Ersetzung der Papierform durch die personengebundene qualifizierte elektronische Signatur stößt in der Praxis auf erhebliche Schwierigkeiten und ist weitgehend unnötig.
- Jedenfalls bei gerichtlichen Dokumenten bedarf es einer personengebundenen qualifizierten elektronischen Signatur nicht. Zur Sicherheit der Authentizität der Urkunde reicht es aus, wenn erkennbar ist, dass das Dokument von einem bestimmten Gericht kommt. Dies kann unter den Verfahrensbeteiligten durch das System des EGVP und nach außen ggf. zusätzlich durch eine – noch zu entwickelnde – Behördensignatur sichergestellt werden.
- Bei Zustellungen sollte auf ein elektronisches Empfangsbekenntnis des Anwaltes verzichtet werden. Vielmehr ist auf den Eingang des Dokuments im elektronischen Postfach bzw. die Absendung durch das Gericht abzustellen. Anschließend sollte die Zustellung nach drei Werktagen unwiderlegbar vermutet werden (eventuell in Verbindung mit einer automatisierten negativen Empfangsbestätigung, sofern das Dokument nicht abgerufen wurde). Die Arbeitsgruppe hat insoweit mehrere Vorschläge erarbeitet.
- Effektiven elektronischen Rechtsverkehr zwischen Gericht und Anwalt wird es nur geben, wenn die Anwälte verpflichtet sind, ein EGVP-Postfach zu betreiben. Zur Sicherung der Authentizität der anwaltlichen Schriftstücke muss sichergestellt sein, dass Anwaltspostfächer tatsächlich nur an zugelassene Anwälte vergeben werden. Die Einrichtung und Verwaltung von Postfächern sollte durch die Rechtsanwaltskammern erfolgen.
Die gewonnenen Erkenntnisse werden auch in die Überlegungen der BLK-UAG „Konsequenzen des elektronischen Rechtsverkehrs“ eingebracht.
Wie einfach, sinnvoll und arbeitserleichternd ein solcher praxisbezogener Einsatz elektronischer Techniken ist, der sich von den Hindernissen des herkömmlichen, papiergebundenen Verfahrensrechts löst, macht die elektronische Parallelakte im Strafverfahren deutlich. Im letzten Jahr wurde auf dem EDVGT in dem gleichnamigen Arbeitskreis sehr anschaulich demonstriert, wie bei der StA Düsseldorf und dem Landgericht Düsseldorf in Umfangsverfahren vom Staatsanwalt über das Gericht bis zum Verteidiger alle Verfahrensbeteiligte sehr effektiv mit der elektronischen Parallelakte arbeiten, die aus der vollständig eingescannten Papierakte besteht. Das System ist so erfolgreich, dass es derzeit in NRW landesweit eingeführt wird. Vergleichbare Bestrebungen gibt es auch in anderen Bundesländern wie z.B. bei der Staatsanwaltschaft Brandenburg oder in Hessen mit der sog. Duplo-Akte.
Diese elektronische Parallelakte bietet alle Vorteile einer elektronischen Akte, vermeidet aber die verfahrensrechtlichen Restriktionen und Hemmnisse einer offiziellen elektronischen Akte. Die Papierakte ist weiterhin die offizielle Akte, hat aber bei dieser Arbeitsweise praktisch lediglich noch Dokumentations- und Archivfunktion. Da alle Verfahrensbeteiligten ohne Probleme mit dieser Art der elektronischen Akte arbeiten, zeichnet sich auch hier die Notwendigkeit der Entrümpelung der Verfahrensvorschriften ab.
Die Einführung der elektronischen Kommunikation zwischen den Familiengerichten und den Versorgungsträgern im Versorgungsausgleich ist bereits Thema der Besprechungen der Gemeinsamen Kommission und auch der Arbeitskreise des EDV-Gerichtstages gewesen. Im Arbeitskreis soll über den aktuellen Stand dieses bundesweit angelegten Projektes berichtet werden.
Ziel des Projektes ist, künftig die gesamte Kommunikation zwischen Familiengerichten und Versorgungsträgern durch den Austausch von XJustiz-Datensätzen unter Nutzung des EGVP elektronisch abzuwickeln. Dies erstreckt sich vom einleitenden Auskunftsersuchen des Familiengerichts über die Rentenauskunft des Versorgungsträgers bis hin zur Übermittlung der Entscheidung des Familiengerichts und zur Rechtskraftmitteilung an den Versorgungsträger. Die Auskunft des Versorgungsträgers und die familiengerichtliche Entscheidung sollen in Form strukturierter XJustiz-Datensätze mit angehängtem PDF/A‑Dokument übersandt werden, so dass sowohl die Weiterverarbeitung in den IT-Fachanwendungen als auch die Verwertung der Textdokumente gewährleistet werden.
Ein erster Schritt zur Realisierung des elektronischen Rechtsverkehrs im Versorgungsausgleich ist das webbasierte elektronische Auskunftsersuchen des Familiengerichts, das aus dem Fachverfahren JUDICA heraus an eine Web-Maske der Deutschen Rentenversicherung gerichtet wird. Diese sog. „kleine Lösung“ wird seit Mai 2009 in ganz Nordrhein-Westfalen eingesetzt und steht zur Verfügung für Anfragen an die Deutsche Rentenversicherung Bund, Rheinland, Westfalen und Knappschaft-Bahn-See. Sie soll künftig eingestellt und abgelöst werden durch den umfassenden elektronischen Datenaustausch über das EGVP, die sog. „große Lösung“.
Die erste Ausbaustufe dieser „großen Lösung“, die Versendung des Auskunftsersuchens V20 mittels XJustiz-Datensatz über das EGVP, wird seit dem 03.05.2010 an sieben Amtsgerichten in Nordrhein-Westfalen pilotweise eingesetzt, und zwar an den Amtsgerichten Geldern, Kleve, Rheinberg, Bergheim, Siegburg, Olpe und Hamm. Auf Seiten der Deutschen Rentenversicherung sind sämtliche Träger beteiligt, also neben der Deutschen Rentenversicherung Bund und Knappschaft-Bahn-See auch alle 14 Regionalträger.
Die Serviceeinheit des Familiengerichts übermittelt das Auskunftsersuchen aus dem Fachverfahren JUDICA heraus mittels EGVP an die Deutsche Rentenversicherung. Bei der Deutschen Rentenversicherung geht das Auskunftsersuchen zentral auf dem EGVP-Client in Würzburg ein und wird von dort an den zuständigen Träger weitergeleitet. Dieser sendet über das EGVP eine Empfangsbestätigung zurück, die die Servicekraft des Familiengerichts in das Fachverfahren JUDICA einliest. Die Serviceeinheit selbst wird nicht mit dem EGVP konfrontiert. Nach den derzeitigen Planungen soll diese Ausbaustufe des elektronischen Rechtsverkehrs im Herbst 2010 an allen Amtsgerichten in Nordrhein-Westfalen zum Einsatz gelangen.
Zugleich wird schon der nächste Schritt vorbereitet, die Übermittlung strukturierter XJustiz-Daten zur Auskunft des Versorgungsträgers und zur Entscheidung des Familiengerichts, ohne dass bereits das dazu gehörige Textdokument als PDF/A‑Datei beigefügt wäre. Das Textdokument wird in dieser Ausbaustufe vielmehr noch in Papierform übersandt. Hierzu hat die Verfahrenspflegestelle JUDICA in Zusammenarbeit mit der Deutschen Rentenversicherung und dem Fachverfahren ForumStar insgesamt 75 Testfälle erarbeitet. Nach den bisherigen Planungen soll der Testbetrieb in Nordrhein-Westfalen im Februar 2011 aufgenommen werden.
Ab Sommer 2011 soll der Testbetrieb bezüglich der letzten Ausbaustufe beginnen. Diese umfasst die Übermittlung der PDF/A‑Dokumente mit den Daten zur Auskunft und zur Entscheidung, die qualifizierte elektronische Signatur der Entscheidung, den Austausch verfahrensbezogener Nachrichten und die Rechtskraftmitteilung. Bis dahin ist auch zu klären, wie justizseitig der Ausdruck der dann elektronisch übermittelten Auskünfte der Versorgungsträger ohne unvertretbaren Mehraufwand gehandhabt wird.
Parallel dazu sind erste Schritte eingeleitet worden, das vielfach von den Familienrichtern zur Berechnung des Versorgungsausgleichs und zur Entscheidungsvorbereitung eingesetzte Berechnungsprogramm WinFam/Gutdeutsch (Beck-Verlag) in den Datenaustausch einzubinden. Ziel ist es, sämtliche XJustiz-Daten, die die Versorgungsträger dem Gericht übermitteln, an die WinFam-Berechnung zu übergeben, so dass der Richter sie in der Berechnungsmaske vorfindet und komfortabel für die Fertigung der Entscheidung nutzen kann. Die Ergebnisse seiner Berechnung wiederum sollen als XJustiz-Daten an die gerichtlichen Fachverfahren übergeben werden, damit sie dem Versorgungsträger unmittelbar als strukturierte Datensätze übermittelt werden können, ohne dass sie gesondert erfasst werden müssten. Hierzu hat auf Einladung der Verfahrenspflegestelle JUDICA am 25.06.2010 eine erste Besprechung mit Vertretern des Beck-Verlags im Oberlandesgericht Düsseldorf stattgefunden. In den kommenden Wochen soll geklärt werden, ob und in welcher Weise im Einzelnen diese Schnittstelle umgesetzt werden kann.
Begleitet werden diese Aktivitäten von regelmäßigen Arbeitstreffen zwischen Vertretern der Deutschen Rentenversicherung, der Verfahrenspflegestelle JUDICA, des Fachverfahrens ForumStar und von IT.NRW. Dort werden die XJustiz-Datensätze für die einzelnen Ausbaustufen des elektronischen Datenaustauschs nach den fachlichen Bedürfnissen der Justiz und der Rentenversicherung detailliert abgestimmt. Der nächste Termin wird auf Einladung der Deutschen Rentenversicherung Bund am 27./28.10.2010 in Hamburg stattfinden. Die Treffen dienen neben der Datenmodellierung nicht zuletzt auch der Abstimmung der jeweils nächsten Projektschritte, um gemeinsam im Zusammenwirken von Justiz und Versorgungsträgern den umfassenden elektronischen Datenaustausch im Versorgungsausgleich im Interesse einer einfachen und zügigen Handhabung dieser Massenverfahren erfolgreich umzusetzen.