Podiumsdiskussion Gastland Niederlande (Mitschrift)
Das Gastland Niederlande war mit einem hochkarätigen Panel vertreten. Zu Beginn waren die Teilnehmenden aufgerufen, den Stand der Entwicklung in den Niederlanden aus ihrer Sicht darzustellen und eine Kernthese dazu aufzustellen.
Kurzvorträge der Panel-Teilnehmer
- Dr. Dory Reiling, Richterin am Bezirksgericht Amsterdam, Projektleitung eKanton-Projekt
Frau Dr. Reiling ließ die letzten 15 Jahre der Justizreform in den Niederlanden Revue passieren. Es sei seither nicht mehr um Pläne gegangen, sondern um realisierte Ergebnisse. Erster Schritt war das sogenannte Gerichtsverbesserungsprogramm 1999 — 2003. Darin wurden die Sachverfahren verbessert und die Gerichtsverwaltung reformiert (Bsp. jedes Gericht mit eigenem Gerichtsvorstand ausgestattet). Es wurde ein zentraler Rat für Gerichtsbarkeit gebildet, der Gerichtsprozesse verbessern konnte. Flankiert wurde dies durch eine Umstellung der Finanzierung der Gerichte auf Leistungsbasis, neue Qualitätssicherungsprozesse und eine neue Einteilung der Gerichtsbarkeit sowie eine Verbesserung der Außenbeziehungen der Gerichte.
Ein Ergebnis:
Kamen 1999 auf einen Richter noch ca. 9.500 Einwohner, sind es trotz gestiegener Bevölkerungszahl heute nur noch 7.250. Die Zahl der Staatsanwälte steig von 450 auf 800. Zu den gewonnenen Einsichten gehören:
Konfliktlösung sollte als öffentliche Dienstleistung verstanden werden;
frühe erste Verhandlungen sind gut;
Verfahrensregeln mussten und müssen vereinfacht werden.
Alle Richter der Niederlande sind inzwischen in Mediationstechniken (nach)ausgebildet, die Parteien sind stärker involviert. Die Zahl der Verfahren, bei denen eine Zeugenvernehmung notwendig wurde, hat sich in der Folge um mehr als die Hölfte reduziert.
Welche Rolle spielte und spielt EDV dabei? Man ist in den Niederlanden noch lange nicht da, wo man hinwill, hat aber die zentrale EDV-Organisation Spir-IT aufgebaut sowie das INDOORS-System. Das öffentliche Portal Rechtspraak.nl gilt inzwischen als DIE Jurisprudenzquelle, die für alle Juristen in den Niederlanden als erster Anlaufpunkt etabliert ist (dieser Status scheint in EWR bisher eher die Ausnahme zu sein). Für die Zukunft ist eine weitere Qualitätsinitiative geplant, als deren Teil sämtliche Zivil- und Verwaltungsverfahren ab einem bestimmten Zeitpunkt digitalisiert ablaufen sollen. Nach Frau Dr. Reilings Theorie sind die entscheidenden Dimensionen der Typisierung der Verfahren:
Ist das Ergebnis sicher oder unsicher?
Ist das Parteiverhältnis stretig oder kooperativ?
Nur bei unsicher + streitig braucht es Urteile (und diese machen in der Praxis nur 8% der Rechtsangelegenheiten aus). Die Ziele der digitalen Reform sind: Zivil- und Verwaltungsverfahren sollen weitgehend gleich ablaufen, einfacher, schneller und sollen eine durchschnittliche Durchlaufzeit von 10 — 22 Wochen erreichen. Grundsätze dabei sind: Es soll möglichst nur eine einzige Sitzung geben, eine starke Regie des Richters, eine endgültige Konfliktlösung und eine klare Urteilsverkündung. Neben einem verpflichtend digitalen Anfangsdokument wird auch die sonstige Kommunikation mit dem Gericht dann ausschließlich digital erfolgen. Das dazu dienende, kurz vor dem Echtbetrieb stehende System “eKantonrechter” ist wie ein digitaler Counter konzipiert, an dem sich Parteien und Justizpersonen treffen.
- Prof. Maurits Barendrecht, HiiL
Professor Barendrechts berichtete zunächst aus seiner Biografie über einen positiven Kulturschock, den er durch mehrmonatige Tätigkeit in einer münchener Kanzlei erlitten habe, wo — basierend vor allem auf Beck-Literatur — den Mandanten tatsächlich klare Aussichten eröffnet werden konnten. Seiner Ansicht nach herrscht in Deutschland wohl weltweit betrachtet die meiste Rechtssicherheit, die sich unter anderem in exzellenter Kommentarliteratur ausdrücke. Die deutsche Besonderheit des “Rechtsgesprächs” sei inzwischen in den Niederlanden übernommen worden. Zudem sei das RA-Gebührensystem eine große Stärke, schaffe es doch Transparenz. Später hat Prof. Barendrecht unter anderem im Projekt “European Civil Code” mitgearbeitet. Das HiiL ist nach seinen Worten eine etwas seltsame Art von Innovationsinstitut und verfügt über einen gemeinsamen Laborbereich mit Partnerorganisationen und Justiz.
Folgende wichtige Trends sieht Prof. Barendrecht weltweit:
1. Informationen und Rechtsberatung findet man online,
2. es entstehen Service-Hybride zw. Anwälten, Mediatoren und Richtern,
3. weltweite Standards setzen sich durch,
4. elektronische Konfliktlösungssysteme werden eingesetzt.
Dennoch sei die Digitalisierung in vielen Ländern noch immer bloße “PDFisierung” der herkömmtlichen Abläufe (das neue deutsche Gesetz […] sei ein richtiger Schritt). In den Niederlanden habe man u.a. erfolgreich Tests mit verschiedenen Plattformen zur Unterstützung der Einigung der Parteien über Schadensersatzforderungen gemacht. Die öffentliche Hand in den Niederlanden zahlt rund 500 Mio. € jährlich an Prozesskostenhilfe (nur Großbritannien liegt per capita höher), daher bestehe starkes Interesse, die Zahl der streitigen Fälle gering zu halten. Die derzeitige Portallösung sei der “Rechtwijzer 1.0”.
Als sehr erfolgreich müsse auch das eBay Resolution Centre gelten (60 Mio. abgearbeitete Fälle pro Jahr, von der Stufe “Intake” über “Dialogue”, “Mediation” bis zu “Adjudication” durchweg kostenlos für die Nutzer). Der neue Prototyp “Rechtwijzer 2.0” füge am Ende des Verfahrens die Station “Aftercare” hinzu, die Feedback über das “Nach dem Streit” sammelt und auswertet. Das System soll anpassbar und für andere Rechtsordnungen einsetzbar sein. Hauptvorteile: Redundanzen vermeiden, administrative Arbeiten reduzieren. Diskussionsanregungen: Braucht es mehr “Customer Care” in justiziellen Verfahren und eine Nachsorge für Gerichtsprozesse?
- Marc van Opijnen, Product Manager bei Official Publications Center NL (KOOP), PhD at Leibniz Center for Law
Herr van Opijnen begann mit dem Thema “Public Access to Legal Data” und dem Portal “Overheid.nl”: Darüber ist die komplette nationale Gesetzgebung konsolidiert online verfügbar (einschl. Metadaten, wie verwandte Gesetze, Parlamentsmaterialien etc.). Ab 1.1.2014 werden auch alle regionalen und Bezirksregelungen elektronisch in das Angebot eingehen. Weiteres Beispiel: “Rechtspraak”, eine frei verfügbare einheitliche Case-Law-Datenbank für alle Gerichte des Landes, in der jedes Urteil mit einem eindeutigen “Europen Case Law Identifier” (ECLI) versehen ist. Als zweiten wichtigen Bereich nannte Herr van Opijnen “Machine Access (Open Data)”. Die revidierte PSI-Richtlinie der EU sei ein Meilenstein, besonders ihr Art. 5 Ziffer 1 verpflichte die Mitgliedsstaaten zum handeln. In den Niederlanden sei noch nicht der komplette Bestand an “Public Sector Information” (PSI) verfügbar, aber die Justizdaten schon sehr weitgehend. Wer nutzt die Daten? Kommerzielle Player verdienen gut an Content Integration. Die Wissenschaft nutzt ebenfalls. Die Regierung spare deutlich daran, dass die Daten auch für alle öffentlichen Stellen einfach verfügbar seien. Auch habe die Qualität der Daten (vor allem durch Verlinkungen verschiedener Datenbanken) zugenommen. Als dritten Schwerpunkt nannte Herr van Opijnen denn auch “Accessibility, Linked Open Data” und zeigte als Beispiel eine Anwendung, über die sämtliche in einem bestimmten Zeitraum erteilten öffentlichen Genehmigungen mit Geodaten verbunden abgefragt und in Kartenform dargestellt werden können. Dort kann man sogar E‑Mail-Updates, beispielsweise aller Bau- und Veranstaltungsgenehmigungen einer beliebigen Gegend abonnieren. Das “Projekt Linked Data” ziele sowohl auf Nutzung/Austausch innerhalb der Regierung/Verwaltung als auch auf Nutzung durch alle anderen Interessierten. Das entsprechende grafische Frontend dafür sei bereits in Arbeit. Außerdem wird ein sogenanntes “Link Tool” zur einfacheren Erzeugung standardkonformer Verknüpfungen angeboten, was die Quaität deutlich steigert. Auch die Versionsgeschichte von Normen sei bereits grafisch abrufbar. Ganz aktuell seien Beta-Tests der “Wettenpocket” zur mobilen Verfügbarkeit (z.B. auf Tablet) einer kuratierten und stets aktuellen Sammlung relevanter Regelungen eines durch den Nutzer frei definierbaren Bereichs. Derzeit befindet sich dies im Testbetrieb für Beamte, anschließend soll es kostenfrei für jede/n verfügbar sein. Für die Zukunft relevant hält Herr van Opijnen die “European Legislation Identifier” (ELI) sowie automatische Link Extractors zur Erschließung der Fallrechtsverweise in Fließtexten, verbunden mit Algorithmen zur Relevanzanalyse von Fallrecht.
- Dr. Marmix Weusten, Head of Knowledge Management bei der Kanzlei Stibbe
Herr Dr. Weusten beklate, dass Rechtsinformatik als Bereich vor 30 Jahren “hot” gewesen sei, heute jedoch leider nicht mehr. Vor 20 Jahren aber sei schon klar gewesen, dass nicht “alles möglich” sei, sondern allenfalls vieles. Als besonders wichtig sieht er die Weiterentwicklung vom Wissensmanagement (Verbesserung der Kompetenz etwa der Anwältinnen und Anwälte einer Kanzlei) hin zum Innovationsmanagement (Verbesserung der Abläufe und Produkte). Stibbe betreibe als in den Niederlanden einzige Kanzlei ein selbst kuratiertes Knowledge Portal.
Dieses richte sich sowohl an junge Anwälte (Suchen) als auch erfahrene Praktiker (Browsen) und enthalte neben gemeinfreien Quellen auch Schemata und biete Alert-Funktionen und Funktionen zur Ausschreibungsunterstützung. Darübe hinaus realisiert Stibbe spezifische Mandantenportale und Funktionen für die E‑Justiz. Dr. Weusten sieht in den Chancen der E‑Justice ist auch Risiken und erklärte dies anhand neuerer Trends wie E‑Discovery und Predictive Coding: So wurden für einen einzigen Insolvenz-Fall über 20 Meter an Gerichtsakten, die kompletten englischsprachigen Zeitungsarchive von China, Japan und Australien sowie die komplette Rspr. Hong Kongs digitalisiert und aufbereitet. Im Ergebnis habe der Mandant gewonnen, aber wie, fragte Dr. Weusten, kann so etwas mit Chancen- und Waffengleichheit einhergehen?
Werde in Zukunft derjenige gewinnen, der Recht hat, oder der, der das meiste Geld hat? Als einen prozeduralen Lösungsansatz zu diesem Problem sieht Herr Dr. Skippe prozessrechtliche Regeln, die eine Pflicht schaffen, die Daten tatsächlich durchgeführter E‑Discovery-Anstrengungen auch der Gegenseite zugänglich zu machen.
D i s k u s s i o n
Frage: Gab es in den Niederlanden Kostenersparnis durch Rechtsinformatiksysteme?
Reiling: Schwer zu ermitteln, wahrscheinlich Nein; den Personaleinsparungen stehen neue Strukturen zur Administration der Systeme gegenüber (bei denen die Personen in der Regel deutlich besser bezahlt sind); dieses Gegenüber wird oft unterschlagen.
Barendrechts: Aber Effekte der “Economies of Scale” sollten nicht unterschtätzt werden; es zeige sich, dass die durchschnittlichen Kosten für Rechtshilfe in alltäglichen Fällen stetig fielen; dies werde angetrieben vor allem durch Versicherer, die das auch und vor allem dank IT könnten.
Opijnen: Zentralisierte Bekanntmachungen im Netz (elektronisches Gesetzblatt) habe Millionen eingespart; auch im Bereich Insolvenzen gebe es ähnliche Effekte.
Weusten: Stimmt Reiling zu; früher war das Köpfeverhältnis Anwalt/Sekretariatskraft 1:1, heute 3:1, aber es gebe parallel sehr teure und große IT-Abteilungen.
Frage Hat sich die Arbeit für die Richter verbessert?
Reiling: Durch die neue Gerichtsorganisation gebe es (wohl) verbesserte Unabhängigkeit der Richter und mehr freie Mittel für die Justiz; die Zeit des Richters sei aber nach wie vor nie wirklich ausreichend.
Barendrechts: Informationsinflation erfasse auch die Arbeit der Richter; das Fallmanagement musste und müsse sich weiter anpassen, was Richter im Gegenzug die niederländischen Richter unzufrieden mache, denn sie hätten zu wenig Einfluss auf diese Anpassung verglichen mit dem, was durch die Verwaltung/Gesetzgebung entschieden werde.
Opijnen: Früher hätten letztlich Verleger entschieden, welche Fälle so veröffentlicht werden, dass sie Relevanz als Case Law entwickeln konnten; heute könne die Justiz, also auch die Richter, dies selbst in die Hand nehmen; dennoch besteht natürlich weiter Einfluss der Verlage, die derzeit rund 1/10 der gerichtsseitig veröffentlichten Urteile zweitveröffentlichen.
Weusten: Für Anwälte hat sich durch digitale Systeme sowohl die Unabhängigkeit als auch die Mittelsituatuin und die zeitliche Effizienz verbessert, für Richter könne aus seiner Sicht in keinem dieser drei Bereiche dasselbe gesagt werden.