Digitalisierung der gerichtlichen Verfahren und das Prozessrecht
Buschmann, A. (Hrsg.) u.a., Digitalisierung der gerichtlichen Verfahren und das Prozessrecht, 3. Tagung junger Prozessrechtswissenschaftler und –wissenschaftlerinnen am 29./30.09.2017 in Leipzig, Band 246 2018, Verlag Duncker & Humblot, Berlin, Preis 79,90 €, E‑Book Preis 71,90 €
Den Reigen der Beiträge anlässlich der 3. Tagung junger Prozessrechtswissenschaftler und ‑wissenschaftlerinnen Ende September 2017 eröffnet Bernhardt mit einem historischen Abriss der Rechtsentwicklung in den ersten Jahren dieses Jahrtausends. Wenn er — teils in der Ich-Form — über Details der Bemühungen des Gesetzgebers berichtet, weiß man, er war dabei, war Impulsgeber oder Motor und auf jeden Fall gut vernetzt in Deutschland und Europa. Aufgrund seiner langjährigen Erfahrung entwirft er anschließend mit zehn „Schlüsselelementen einer erfolgreichen Digitalisierung“ ein zumindest beachtenswertes Kursbuch für die kommenden Jahre, das Gesetzgeber und Praxis nicht unbeachtet lassen sollten.
Die hiernach folgenden Fachbeiträge sind aus prozessrechtlicher Sicht wertvoll. Mehrere von ihnen hinterfragen den vom Gesetzgeber unter intensiver Beteiligung der Praxis geregelten Übergang von Papierakte und Briefpost in ein digitales Zeitalter, andere greifen aktuelle Fragen im Zusammenhang mit der Digitalisierung und dem Internet sowie den technischen Möglichkeiten auf, die eine Digitalisierung der Prozesse bieten kann.
Als aus Sicht der Praxis gelungen und lesenswert sind hier namentlich zu nennen die Beiträge von Brodowski zur Beweisführung mit digitalen Spuren, Ladiges zur Durchsuchung in der Cloud, Lutschounig zur Bereitstellung von Zivilurteilen im Internet, Krupar zur Blockchain im Prozessrecht, Zwickel zum strukturierten Parteivortrag und von Magnus zu Bild- und Tonaufnahmen von Gerichtsverfahren.
Andere Beiträge offenbaren erhebliche Defizite in der Kenntnis der Praxis. Aus dem Strauß von „Fehlinterpretationen“ seien nur einige hervorgehoben:
So zeigen die Ausführungen von Korves zum ergonomisch elektronischen Arbeitsplatz (S. 43) und seine Besorgnis einer Kontrolle und Auswertung richterlicher digitaler Spuren für das Personalbedarfsberechnungssystem (PEBB§Y) (S. 44 f) allenfalls rudimentäre Kenntnisse dieser Systeme.
Die von Stöhr an mehreren Stellen erwähnte Kommunikation per E‑Mail, sei es nun von Anwalt zum Sekretariat (S. 55), sei es das Versenden von Schreiben aus der Akte (S. 58), suggeriert ein datenschutzrechtlich unbedenkliches Verhalten, das nicht der Justizpraxis entspricht und als eventuelles anwaltliches Verhalten dringend der rechtlichen Überprüfung bedürfte. Seine Ausführungen zum „Nachteil der elektronischen Akte“, die leichter zu vernichten sein soll, als eine Papierakte (S. 59), lassen tiefere Kenntnisse über die Datenhaltung bei Justiz und Strafverfolgungsbehörden vermissen.
Sehr theoretisch muten die Ausführungen von Savić zur Beweisführung mit digitalen Beweismitteln an. Als Praktiker hätte man sich gefreut, das „Pferd wäre von der anderen Seite aufgezäumt worden“. Denn selbstverständlich interessiert die Praxis eher, wie konkrete digitale Beweismittel-(gruppen) über die Regelung in § 249 Abs. 1 StPO hinaus unter Beachtung rechtlicher Rahmenbedingungen in die Hauptverhandlung eingeführt werden können und welches heute praktizierte Vorgehen ein regelndes Eingreifen des Gesetzgebers erfordert. Hieraus könnten sich grundsätzliche Antworten für den Umfang des Augenscheinbeweises mit digitalen Beweismitteln ergeben. Der Ansatz von Savić lässt hingegen einen Regelungsvorschlag für die – von der täglichen Praxis nicht bestrittenen — Zulässigkeit der Einführung von „Audio‑, Bilddateien und multimedialen Inhalten“ (S. 82) vermissen.
Anders als für die von Beckermann beschriebenen elektronischen Akten der Verwaltungsbehörden gibt es für die (Verwaltungs-)Gerichtsakten sowie für die elektronische Kommunikation der Verwaltung mit den Gerichten einheitliche Regelungen zum Dateiformat. Ob daher wirklich ein „notwendiger Vorrang elektronischer Behördenakten“ (S. 100), die in den verschiedensten Dateiformaten anzutreffen sind, den richtigen Weg zur elektronischen Gerichtsakte weist, darf bezweifelt werden. Zumindest werden die Behördenakten den Gerichten in einem dort lesbaren Format – entweder digital oder in Papierform — vorzulegen sein.
Justiz-Statistiken werden entgegen der Ansicht von Baum nicht aus einer elektronischen Akte heraus generiert werden (S. 110), sondern auch zukünftig aus einem parallel geführten Fachverfahren. Auch ist es weder vornehmliches Ziel der Staatsanwaltschaft noch der Strafverfolgungsbehörden, die Beschuldigten einer Verurteilung zuzuführen (S. 112). Dies ist sowohl § 160 Abs. 2 StPO als auch dem Umstand zu entnehmen, dass über 70% der Ermittlungsverfahren eingestellt werden. Sein Versuch einer eindeutigen Abgrenzung der Beweismittel von Ausgangsdokumente ist nicht vollständig gelungen, womit auch seine Schlussfolgerungen kritisch zu lesen sind. Ausgangsdokumente sind solche die nicht im Format, in dem die Akte geführt wird, eingereicht werden und zur Dokumentation des Verfahrensgangs zur Akte genommen und demzufolge in das Format der Akte „transformiert“ werden müssen. Beweismittel dienen dem Nachweis von Tatsachen, die die Schuld oder Strafe betreffen; sie sind grundsätzlich gesondert von der Akte aufzubewahren und nach Verfahrensabschluss zu vernichten oder an den Berechtigten herauszugeben. Sie können in das Format der Akte übertragen werden, u.a. um eine elektronische Auswertung zu ermöglichen. Als Frist zur Aufbewahrung der Ausgangsdokumente sah der Gesetzentwurf 2012 den Verfahrensabschluss vor. Auf Betreiben der Praxis wurden § 32e Abs. 5 StPO dann aber um eine Mindestaufbewahrungsfrist von 6 Monaten sowie eine Aufbewahrungsmöglichkeit bis zum Eintritt der Verfolgungsverjährung ergänzt. Sollte ersteres (ähnlich § 298 Abs. 4 ZPO) eine automatisierte – fristgebundene — Verwaltung der Ausgangsdokumente ermöglichen, wurde mit letzterer dem Umstand Rechnung getragen, dass (statistisch) erledigte Verfahren nicht endgültig abgeschlossen sein müssen, weil z.B. noch nach (Mit-)Tätern gefahndet wird oder sich später neue Aspekte ergeben (vgl. z.B. § 153a Abs. 1 S. 5 StPO).
Diese Lücken kann man mit den Worten Beckmanns (S. 96) als „unterbelichtete Nahtstelle“ identifizieren; sie lassen den Wunsch nach einem intensiven Gedankenaustausch zwischen Wissenschaft und Praxis keimen.